Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
das mir nicht mehr aus dem Kopf geht …« Aber sie ist schon zur Tür hinaus und geht Lea holen.
    Sobald die beiden außer Sicht sind und er sein Arbeitszeug weggeräumt hat, steigt er in den Lieferwagen und fährt an die gleiche Stelle wie am Tag zuvor. Er denkt daran, kurz anzuhalten und Percy weiter auszufragen, kommt aber zu dem Schluss, dass es sinnlos sei. Solch ein demonstratives Interesse könnte Percy nur dazu verleiten, Dinge zu erfinden. Er denkt wieder daran, mit dem Farmer zu sprechen, entscheidet sich aber aus denselben Gründen wie gestern Abend dagegen.
    Er parkt den Lieferwagen auf dem Pfad, der in das Waldstück führt. Dieser Pfad verliert sich bald, aber schon davor hat er ihn verlassen. Er geht umher und betrachtet die Bäume, die auf ihn denselben Eindruck machen wie gestern, ohne ein Anzeichen, an einem feindlichen Komplott beteiligt zu sein. Er hat die Kettensäge und die Axt dabei, und er hat das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Wenn irgendjemand anders hier erscheint, wenn irgendjemand ihm Fragen stellt, wird er sagen, dass er eine Genehmigung vom Farmer hat und nichts von irgendeiner anderen Abmachung weiß. Er wird darüber hinaus sagen, dass er fest vorhat, weiter Bäume zu fällen, es sei denn, der Farmer selbst kommt und sagt ihm, er soll verschwinden. Falls das wirklich passiert, muss er natürlich aufhören. Aber das ist unwahrscheinlich, da Suter ein schwergewichtiger Mann mit einem Hüftleiden ist, also neigt er nicht dazu, auf seinem Besitz umherzuspazieren.
    »… keine Berechtigung …«, sagt Roy und führt Selbstgespräche wie Percy Marshall, »das möchte ich Schwarz auf Weiß sehen.«
    Er redet mit dem Unbekannten, der ihm noch gar nicht gegenübergetreten ist.
    Der Boden jedes Waldstücks ist meistens unebener als das umgebende Ackerland. Roy war immer der Meinung, das liege an den Bäumen, die umstürzten und mit ihren Wurzeln die Erde hochrissen, dann einfach dalagen und vermoderten. Wo sie lagen und verrotteten, hat sich ein Wall gebildet – wo ihre Wurzeln die Erde mitrissen, eine Mulde. Aber er hat irgendwo gelesen – erst vor kurzem, und er wünschte, er könne sich erinnern, wo –, dass der Grund dafür in der Vergangenheit zu suchen ist, als sich gleich nach der Eiszeit zwischen Erdschichten Eis bildete und sie zu seltsamen Buckeln aufwarf, geradeso, wie es das heute noch in den arktischen Regionen tut. Da, wo das Land nicht gerodet und bearbeitet worden ist, haben die Buckel überdauert.
     
    Was Roy jetzt passiert, ist das Normalste und dennoch Unglaublichste. Das, was jedem blöden Tagträumer passieren kann, der im Wald umherspaziert, jedem Urlauber, der die Natur begafft, jemandem, der meint, der Wald ist ein Park, durch den man schlendern kann. Jemandem, der leichtes Schuhwerk trägt anstelle von Stiefeln und nicht daran denkt, ständig ein Auge auf den Boden zu haben. Viele hundert Mal ist Roy durch den Wald gelaufen, und es ist ihm nie passiert, kein Mal auch nur annähernd.
    Es hat eine Zeitlang leicht geschneit, was die Erde und das tote Laub glitschig macht. Sein einer Fuß rutscht weg und verdreht sich, dann bricht der andere durch verschneites Gestrüpp bis zum Boden durch, der tiefer unten ist, als er erwartet hat. Das heißt, er tritt achtlos – fällt fast – auf eine Stelle, auf die man immer nur vorsichtig zur Probe treten sollte oder überhaupt nicht, wenn man nahebei einen Fleck sieht, der besser ist. Was geschieht nun? Er fällt nicht kopfüber hin, nicht so, als sei er in einen Murmeltierbau gestolpert. Er gerät aus dem Gleichgewicht, er taumelt widerwillig, fast ungläubig, dann geht er zu Boden, wobei der ausrutschende Fuß irgendwie unter das andere Bein gerät. Er hält im Fallen die Säge von sich weg und schleudert die Axt fort. Aber nicht weit genug – der Axtstiel trifft ihn hart, am Knie des eingeklemmten Beins. Die Säge hat ihn in ihre Richtung gezogen, aber wenigstens ist er nicht auf sie gefallen.
    Als er zu Boden ging, hatte er das Gefühl, es geschehe fast in Zeitlupe, bedachtsam und zwangsläufig. Er hätte sich die Rippen brechen können, doch nein. Und der Axtstiel hätte hochfliegen und ihn ins Gesicht treffen können, doch nein. Er hätte sich das Bein aufreißen können. Er denkt nicht mit unmittelbarer Erleichterung an all diese Möglichkeiten, sondern als könne er nicht sicher sein, dass sie nicht eingetreten sind. Weil die Art und Weise, wie das angefangen hat – wie er ausrutschte und auf das

Weitere Kostenlose Bücher