Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
darum zu sorgen. Und er denkt an seine Frau, die so tut, als müsse sie über etwas im Fernsehen lachen. Ihre Starre. Zumindest hat sie es warm und satt zu essen, sie ist kein Flüchtling, der sich auf den Straßen herumschleppt. Es gibt Schlimmeres, denkt er. Schlimmeres.
Er krabbelt den Abhang hinauf, gräbt seine Ellbogen und sein zerschrammtes, aber brauchbares Knie ein, wo er nur kann. Immer weiter, er beißt die Zähne zusammen, als könne ihn das davor bewahren zurückzurutschen; er greift nach jeder aus dem Boden ragenden Wurzel und nach jedem halbwegs kräftigen Pflanzenstängel, den er sehen kann. Manchmal rutscht er zurück, verliert den Halt, aber er kann sich fangen und kämpft sich wieder hoch. Er hebt kein einziges Mal den Kopf, um abzuschätzen, wie weit er es noch bis oben hat. Wenn er so tut, als gehe die Steigung ewig weiter, wird es eine Art von Belohnung, eine Überraschung sein, oben anzukommen.
Es dauert sehr lange. Aber schließlich zieht er sich auf ebenen Boden, und durch die Bäume vor ihm und den fallenden Schnee kann er den Lieferwagen sehen. Den alten roten Mazda, einen treuen alten Freund, der wundersamerweise wartet. Auf ebenem Grund zu sein hebt wieder seine Erwartungen an sich selbst, also krabbelt er auf die Knie, geht sehr, sehr vorsichtig mit dem schlimmen Bein um, stellt sich wackelig auf das gute Bein, zieht das andere nach und schwankt wie ein Betrunkener. Er probiert es mit Hopsen. Hat keinen Sinn – er würde nur das Gleichgewicht verlieren. Er versucht, das schlimme Bein ein wenig zu belasten, nur leicht, und merkt, dass er durch den Schmerz in Ohnmacht fallen kann. Er lässt sich in die alte Stellung nieder und kriecht weiter. Aber statt geradewegs zwischen den Bäumen auf den Lieferwagen zuzukriechen biegt er im rechten Winkel ab, dorthin, wo seine Spur sein muss. Sobald er dort angelangt ist, kommt er schneller voran, krabbelt über die hart gefrorenen Furchen, den Schlamm, der im Tageslicht aufgetaut ist und jetzt wieder zu gefrieren beginnt. Es ist grausam für das Knie und die Handflächen, aber sonst so viel leichter als der Weg, den er bisher nehmen musste, dass er sich fast euphorisch fühlt. Er sieht den Lieferwagen vor sich. Der ihn anschaut, auf ihn wartet.
Er wird fahren können. Zum Glück hat es das linke Bein erwischt. Jetzt, wo das Schlimmste vorbei ist, überfallen ihn, zusammen mit der Erleichterung, eine Reihe von quälenden Fragen. Wer wird für ihn die Säge und die Axt holen, wie kann er jemandem erklären, wo sie zu finden sind? Wie bald wird der Schnee sie zudecken? Wann wird er wieder laufen können?
Sinnlos. Er schiebt das alles weg und hebt den Kopf, um noch einen ermutigenden Blick auf den Lieferwagen zu werfen. Er ruht sich wieder aus und wärmt sich die Hände. Er könnte jetzt seine Handschuhe anziehen, aber warum sie ruinieren?
Ein großer Vogel steigt seitlich von ihm aus den Bäumen auf, und er reckt den Hals, um auszumachen, was für einer es ist. Er meint, es ist ein Habicht, aber es könnte auch ein Bussard sein. Falls es ein Bussard ist, wird er dann ein Auge auf ihn haben, weil er sieht, dass er verletzt ist, und wähnt, im Glück zu sein?
Er wartet darauf, dass der Vogel zurückkehrt, damit er ihn an seinem Flug und seinen Flügeln erkennen kann.
Und während er das tut, während er wartet und auf die Flügel des Vogels achtet – es ist ein Bussard –, kommt ihm ein völlig neuer Einfall zu der Geschichte, die ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden beschäftigt hat.
Der Lieferwagen rollt. Wann hat er sich in Bewegung gesetzt? Als er den Vogel beobachtete? Anfangs nur ein Rucken, ein Rumpeln in den Furchen – es könnte fast eine Sinnestäuschung sein. Aber er kann den Motor hören. Er läuft. Ist jemand in den Wagen gestiegen, während er abgelenkt war, oder hat jemand die ganze Zeit über darin gewartet? Er hat ihn doch abgeschlossen, und er hat die Schlüssel bei sich. Er betastet wieder seine Jackentasche. Jemand stiehlt den Lieferwagen vor seinen Augen und ohne die Schlüssel. Er ruft und winkt, vom Boden aus – als würde das etwas nutzen. Aber der Lieferwagen setzt nicht zurück zu dem Wendekreis, um wegzufahren, sondern rumpelt geradewegs auf ihn zu, und jetzt drückt die Person, die fährt, auf die Hupe, nicht zur Warnung, sondern wie zur Begrüßung, und bremst.
Er sieht, wer es ist.
Die einzige Person, die die Zweitschlüssel hat. Die einzige Person, die es sein kann. Lea.
Er bemüht sich, das
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