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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Studenten sein, die gekommen war, um das Honorar herunterzuhandeln.
    »Du meine Güte«, sagte Clara, deren Phantasie lebhafter war, »du meine Güte, wir dachten, was haben wir hier, ist das eine Charlotte Corday?«
    Das alles wurde Sofia erst später erzählt, als sie sich mit ihnen angefreundet hatte. Und Elisa fügte trocken hinzu: »Zum Glück lag unser Bruder nicht gerade in der Badewanne. Denn wir hätten nicht aufstehen können, um ihn zu beschützen, weil wir in diese endlosen Schals verwickelt waren.«
    Sie hatten Schals für die Soldaten an der Front gestrickt. Das war im Jahre 1870 , bevor Sofia und Wladimir ihrer Studien halber nach Paris fuhren. So tief waren sie in anderen Dimensionen, vergangenen Jahrhunderten vergraben, so wenig beachteten sie die Welt, in der sie lebten, dass sie kaum etwas von dem Krieg, der gerade stattfand, gehört hatten.
    Weierstraß war ebenso im Ungewissen über Sofias Alter und Ansinnen wie seine Schwestern. Er erzählte ihr hinterher, dass er sie für eine fehlgeleitete Gouvernante gehalten hatte, die sich seines Namens bedienen wollte, um ihren Referenzen die Mathematik hinzufügen zu können. Er dachte, er müsse das Dienstmädchen und seine Schwestern dafür tadeln, sie zu ihm vorgelassen zu haben. Aber er war ein höflicher und freundlicher Mann, also wies er ihr nicht sofort die Tür, sondern erklärte ihr, dass er nur fortgeschrittene Studenten mit anerkannten Examina annehme, von denen er zurzeit mehr als genug zu betreuen habe. Dann, als sie zitternd vor ihm stehen blieb, mit diesem lächerlichen Hut, der ihr Gesicht verschattete, mit Händen, die ihren Schal umklammerten, erinnerte er sich an eine Methode, einen Trick, den er schon ein oder zwei Mal benutzt hatte, um einen ungeeigneten Studenten zu entmutigen.
    »Was ich in Ihrem Falle tun kann«, sagte er, »ist, Ihnen eine Reihe von Aufgaben zu stellen und Sie zu bitten, mir Ihre Lösungen in einer Woche vorzustellen. Wenn sie zu meiner Zufriedenheit ausfallen, werden wir das Gespräch fortsetzen.«
    Eine Woche später hatte er sie völlig vergessen. Natürlich war er davon ausgegangen, dass er sie nie wiedersehen werde. Als sie dann in sein Studierzimmer trat, erkannte er sie nicht, vielleicht, weil sie nicht mehr den Mantel trug, der ihre schlanke Figur verborgen hatte. Sie musste mehr Mut gefasst haben, oder vielleicht hatte sich das Wetter geändert. Ihr Hut war ihm – anders als seinen Schwestern – nicht in Erinnerung geblieben, denn er hatte keinen Blick für weibliche Accessoires. Aber als sie die Bögen aus ihrer Tasche zog und ihm auf den Schreibtisch legte, fiel sie ihm wieder ein, und er setzte sich seufzend die Brille auf.
    Seine Überraschung war groß – auch das erzählte er ihr zu einem späteren Zeitpunkt –, als er sah, dass alle Aufgaben gelöst worden waren, und einige sogar auf völlig originelle Weise. Aber er blieb ihr gegenüber misstrauisch und hatte den Verdacht, dass sie die Arbeit eines anderen vorzeige, vielleicht die von einem Bruder oder einem Freund, der sich aus politischen Gründen versteckt hielt.
    »Setzen Sie sich«, sagte er. »Und jetzt erklären Sie mir jede dieser Lösungen, jeden Schritt dahin.«
    Sie begann zu reden und beugte sich vor, ihr Schlapphut fiel ihr über die Augen, sie setzte ihn ab, und er landete auf dem Fußboden. Ihre Locken kamen zum Vorschein, ihre leuchtenden Augen, ihre Jugend und ihre zitternde Erregung.
    »Ja«, sagte er. »Ja. Ja. Ja.« Er sprach bedächtig und verbarg so gut er konnte sein Staunen, besonders über die Lösungen, deren Methode aufs Glänzendste von seiner eigenen abwich.
    Sie erschütterte ihn in vieler Hinsicht. Sie war so schmächtig und jung und eifrig. Er hatte das Gefühl, sie beruhigen, sie behutsam halten zu müssen, damit sie lernte, mit dem Feuerwerk in ihrem Kopf umzugehen.
    Sein ganzes Leben lang – es bereitete ihm Schwierigkeiten, das zuzugeben, da er sich stets vor zu viel Begeisterung hütete –, sein ganzes Leben lang hatte er darauf gewartet, dass solch ein Student sein Zimmer betrat. Ein Student, der ihm alles abverlangte und der nicht nur fähig war, seinen Geistesanstrengungen zu folgen, sondern sie vielleicht übertreffen konnte. Er musste sich in Acht nehmen, zu sagen, was er wirklich glaubte – dass zu einem erstklassigen Mathematiker so etwas wie Intuition gehörte, ein Geistesblitz, der das erhellte, was die ganze Zeit über da gewesen war. Streng und genau musste man sein, ganz so wie ein

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