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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht so gut kannte wie Julia, sich gefragt hätte, ob sie verrückt sei.
    Weierstraß’ Gedanken – und nun ihre – beschäftigten sich mit elliptischen und Abel’schen Funktionen und der Theorie der analytischen Funktionen aufgrund ihrer Darstellung als eine unendliche Folge. Die nach Weierstraß benannte Theorie behauptete, dass jede bestimmte unendliche Folge realer Zahlen eine konvergente Teilfolge hat. Darin schloss sie sich ihm an, stellte es später in Frage und eilte ihm sogar eine Zeitlang voraus, so dass beide von Lehrer und Schülerin zu Kollegen wurden, wobei sie oft die Anregungen zu seinen Untersuchungen gab. Aber diese Beziehung entwickelte sich erst im Laufe der Jahre, und beim sonntäglichen Abendessen – zu dem sie regelmäßig eingeladen wurde, weil er ihr inzwischen seine Sonntagnachmittage widmete – war sie wie eine junge Verwandte, ein strebsamer Schützling.
    Als dann Julia eintraf, wurde sie ebenfalls eingeladen, und die beiden Mädchen bekamen Braten und Kartoffelpüree und leichte, köstliche Nachspeisen vorgesetzt, die alle ihre Vorstellungen von der deutschen Küche über den Haufen warfen. Nach dem Mahl saßen sie am Kamin und lauschten Elisa, die sehr lebhaft und ausdrucksvoll aus den Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Conrad Ferdinand Meyer vorlas. Literatur war die wöchentliche Belohnung nach all dem Stopfen und Stricken.
    Zu Weihnachten gab es für Sofia und Julia einen Baum, obwohl die Geschwister Weierstraß für sich selbst seit Jahren keinen mehr aufgestellt hatten. Es gab in glitzerndes Papier eingewickelte Fondants, Früchtekuchen und Bratäpfel. Für die Kinder, wie sie sagten.
    Aber gar nicht lange und sie erlebten eine verstörende Überraschung.
     
    Die Überraschung war, dass Sofia, die wie das Inbild eines schüchternen und unerfahrenen jungen Mädchens wirkte, einen Ehemann hatte. In den ersten paar Wochen ihres Unterrichts, bevor Julia eintraf, war sie an den Sonntagabenden an der Haustür von einem jungen Mann abgeholt worden, der den Geschwistern Weierstraß nicht vorgestellt wurde und den sie für einen Diener hielten. Er war groß und unattraktiv, mit dünnem roten Bart, großer Nase und nachlässiger Kleidung. Wären die Geschwister Weierstraß weniger weltfremd gewesen, hätten sie sich klargemacht, dass eine vornehme Familie, die auf sich hielt – wie die von Sofia eine war, das wussten sie –, niemals einen so ungepflegten Diener beschäftigen würde und dass er daher ein Freund sein musste.
    Dann traf Julia ein, und der junge Mann verschwand.
    Erst einige Zeit später gab Sofia preis, dass er Wladimir Kowalewski hieß und dass sie mit ihm verheiratet war. Er studierte in Wien und Paris, obwohl er bereits examinierter Jurist war und versucht hatte, in Russland seinen Weg als Verleger von Lehrbüchern zu machen. Er war mehrere Jahre älter als sie.
    Fast ebenso überraschend wie dieses Geständnis war die Tatsache, dass Sofia es vor Weierstraß ablegte und nicht vor den Schwestern. Dabei waren sie diejenigen, die in diesem Haushalt eher mit dem realen Leben zu tun hatten – und sei es nur durch ihren Umgang mit den Dienstboten und die Lektüre zeitgenössischer Romane. Aber Sofia hatte nicht in der Gunst ihrer Mutter oder ihrer Gouvernante gestanden. Die Unterhandlungen mit dem General waren nicht immer erfolgreich verlaufen, doch sie hatte Achtung vor ihm gehabt und gedacht, dass er vielleicht auch sie achtete. Also war es der Mann des Hauses, an den sie sich vertrauensvoll wandte.
    Später merkte sie, dass sie Weierstraß in Verlegenheit gebracht haben musste – nicht dadurch, dass sie es ihm mitteilte, sondern dadurch, dass sie ihm aufbürdete, es seinen Schwestern mitzuteilen. Denn mit Sofias Ehe hatte es noch mehr auf sich. Sie war rechtmäßig verheiratet, aber es handelte sich um eine Weiße Heirat – etwas, wovon er noch nie gehört hatte und seine Schwestern ebenso wenig. Nicht nur, dass Ehemann und Ehefrau nicht am selben Ort lebten, sie lebten überhaupt nicht zusammen. Sie heirateten nicht aus den allgemein üblichen Gründen, sondern sie verpflichteten sich insgeheim, niemals so zu leben, niemals …
    »Die Ehe zu vollziehen?« Vielleicht war es Clara, die das sagte. Resolut, sogar ungeduldig, um den peinlichen Moment zu überwinden.
    Ja. Und junge Leute – junge Frauen –, die im Ausland studieren wollten, waren zu diesem Täuschungsmanöver gezwungen, denn keine russische Frau, die unverheiratet war, durfte ohne

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