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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zogen es vor, ihr nicht zu begegnen und sie auch nicht zu sich einzuladen.
    Ehefrauen hielten auf den Barrikaden Ausschau, bildeten die unsichtbare, widerständige Armee. Ehemänner zuckten über ihre Verbote traurig die Achseln, hielten sich aber daran. Männer, deren Gehirne überkommene Vorstellungen sprengten, waren immer noch die Leibeigenen von Frauen, in deren Köpfen sich nichts rührte als die Notwendigkeit von eng geschnürten Korsetts, Visitenkarten und Salongeplauder, das einem die Kehle mit einer Art von parfümiertem Nebel füllte.
    Sie musste mit dieser Litanei des Grolls aufhören. Die Ehefrauen von Stockholm luden sie in ihre Häuser ein, zu den wichtigsten Festen und den Diners im Familienkreis. Sie rühmten sie und brüsteten sich mit ihr. Sie nahmen ihr Kind freundlich bei sich auf. Sofia mochte dort eine Kuriosität sein, aber eine, die sie guthießen. So etwas wie ein vielsprachiger Papagei oder eines von diesen Naturwundern, die einem, ohne zu zögern oder nachzudenken, sagen können, dass ein bestimmtes Datum im vierzehnten Jahrhundert auf einen Dienstag fiel.
    Nein, das war nicht gerecht. Sie hatten Achtung vor dem, was sie tat, und viele von ihnen waren der Überzeugung, dass mehr Frauen solche Dinge tun sollten und eines Tages tun würden. Warum also war sie ein wenig von ihnen gelangweilt und sehnte sich nach hochfliegenden Gesprächen bis spät in die Nacht? Warum störte es sie, dass sie sich entweder wie Pfarrersfrauen oder wie Zigeunerinnen kleideten?
    Sie hatte entsetzlich schlechte Laune, und das lag an Jaclard und Urij und der anständigen Frau, der sie nicht vorgestellt werden konnte. Dazu die Halsschmerzen und das Frösteln, bestimmt war eine ausgewachsene Erkältung im Anmarsch.
    Jedenfalls würde sie bald selbst eine Ehefrau sein, noch dazu die Frau eines reichen, klugen und kultivierten Mannes.
     
    Der Teewagen ist gekommen. Das wird ihrem Hals helfen, auch wenn sie wünscht, es wäre russischer Tee. Bald hinter Paris fing es an zu regnen, und jetzt ist aus dem Regen Schnee geworden. Sie zieht Schnee dem Regen vor, weiße Felder dem dunklen und durchweichten Ackerboden, wie jeder Russe es tut. Wenn Schnee liegt, gestehen sich die meisten Menschen ein, dass Winter herrscht, und ergreifen mehr als nur halbherzige Maßnahmen, um ihre Häuser warm zu halten. Sie denkt an das Haus von Weierstraß, wo sie heute übernachten wird. Der Professor und seine Schwestern wollten von einem Hotel nichts hören.
    Sein Haus ist immer gemütlich mit den dunklen Teppichen, den schweren gefransten Vorhängen und den tiefen Sesseln. Das Leben dort folgt einem strengen Ritual – es ist dem Studium geweiht, besonders dem Studium der Mathematik. Schüchterne, zumeist schlechtgekleidete Studenten gehen durch das Wohnzimmer ins Studierzimmer, einer nach dem anderen. Die beiden unverheirateten Schwestern des Professors begrüßen sie freundlich, während sie vorbeigehen, erwarten aber kaum eine Antwort. Sie sind mit ihrem Strickzeug, ihren Stopfsachen oder mit Teppichknüpfen beschäftigt. Sie wissen, dass ihr Bruder ein wunderbares Gehirn hat, dass er ein großer Mann ist, aber auch, dass er aufgrund seiner sitzenden Tätigkeit jeden Tag eine Portion Backpflaumen benötigt, dass er nicht einmal die feinste Wolle auf der Haut verträgt, weil er davon Ausschlag bekommt, und dass seine Gefühle verletzt sind, wenn ein Kollege es versäumt hat, ihn in einer Publikation anerkennend zu erwähnen (auch wenn er vorgibt, davon keine Notiz zu nehmen, weder in Gesprächen noch in seinen Schriften, in denen er gewissenhaft denjenigen würdigt, der ihn übergangen hat).
    Diese Schwestern – Clara und Elisa – hatten sich am ersten Tag, als Sofia auf dem Weg zum Studierzimmer ihr Wohnzimmer betrat, erschrocken. Das Dienstmädchen, das sie eingelassen hatte, war nicht angewiesen, wählerisch zu sein, weil jene im Haus ein so zurückgezogenes Leben führten, auch weil die Studenten, die dorthin kamen, oft ärmlich und unmanierlich waren, so dass die Maßstäbe der achtbarsten Häuser nicht galten. Trotzdem hatte das Dienstmädchen ein wenig gezögert, bevor sie diese kleine Frau einließ, deren Gesicht fast ganz von einer dunklen Kappe verdeckt wurde und die sich ängstlich bewegte, wie ein schüchterner Bettelmönch. Die Schwestern konnten sich kein Urteil über ihr wahres Alter bilden, kamen aber – nachdem sie im Studierzimmer vorgelassen worden war – zu dem Schluss, sie könnte die Mutter eines

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