Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
die Einwilligung der Eltern das Land verlassen. Julias Eltern waren aufgeklärt genug, sie gehen zu lassen, aber die von Sofia nicht.
Was für ein barbarisches Gesetz.
Ja. Russisch. Aber einige junge Frauen fanden einen Weg, es zu umgehen, und zwar mit Hilfe von jungen Männern, die sehr idealistisch und mitfühlend waren. Vielleicht waren sie außerdem noch Anarchisten. Wer weiß?
Sofias ältere Schwester hatte einen dieser jungen Männer aufgetrieben und zusammen mit einer Freundin von ihr ein Treffen arrangiert. Die beiden hatten dafür vielleicht eher politische als intellektuelle Gründe. Gott weiß, warum sie Sofia mitnahmen, der Politik nicht am Herzen lag und die zu so einem Wagnis eigentlich nicht bereit war. Aber der junge Mann musterte die beiden älteren Mädchen – wobei die Schwester namens Anjuta bei aller Sachlichkeit ihre Schönheit nicht verbergen konnte –, und er sagte nein. Nein, bei aller Wertschätzung für Sie, meine Damen, möchte ich mit Ihnen einen solchen Vertrag nicht eingehen, aber ich wäre dazu bereit mit Ihrer jüngeren Schwester.
»Vielleicht befürchtete er, die älteren könnten sich als schwierig erweisen« – Elisa mochte das gesagt haben, mit ihren Erfahrungen aus Romanen –, »besonders die Schönheit. Er hat sich eben in unsere kleine Sofia verliebt.«
Liebe hat doch darin gar nichts zu suchen, mag Clara eingewandt haben.
Sofia nimmt den Antrag an. Wladimir stattet dem General einen Besuch ab und bittet ihn um die Hand seiner jüngeren Tochter. Der General gibt sich höflich, ist sich bewusst, dass der junge Mann aus einer guten Familie kommt, sich jedoch bislang noch keinen Namen gemacht hat. Aber Sofia ist zu jung, sagt er. Weiß sie überhaupt etwas von diesen Absichten?
Ja, sagte Sofia, und sie liebe ihn.
Der General sagte, dass sie ihren Gefühlen nicht nachgeben durften, sondern einige Zeit, eine beträchtliche Zeit, damit verbringen mussten, einander in Palibino kennenzulernen. (Sie befanden sich zu dem Zeitpunkt in Petersburg.)
Die Dinge waren an einem toten Punkt angelangt. Wladimir würde nie und nimmer einen guten Eindruck machen. Er gab sich nicht genug Mühe, mit seinen radikalen Ansichten hinter dem Berg zu halten, und er kleidete sich schlecht, gleichsam als tue er es mit Absicht. Der General war zuversichtlich, je mehr Sofia von diesem Freier sah, desto weniger würde sie ihn heiraten wollen.
Sofia jedoch schmiedete inzwischen eigene Pläne.
Es kam ein Tag, an dem ihre Eltern ein wichtiges Souper gaben. Sie hatten einen Diplomaten, Professoren und Kameraden des Generals aus der Artillerieschule eingeladen. Inmitten dieses Trubels gelang es Sofia, aus dem Haus zu schlüpfen.
Sie ging allein hinaus auf die Straßen von Petersburg, durch die sie noch nie ohne eine Dienerin oder ihre Schwester gelaufen war. Sie ging zu Wladimirs Unterkunft in einem Stadtviertel, wo arme Studenten wohnten. Die Tür wurde ihr sofort aufgetan, und sobald sie drinnen war, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an ihren Vater.
»Mein teurer Vater, ich bin zu Wladimir gegangen und werde hier bleiben. Ich bitte Euch, stellt Euch nicht länger gegen unsere Heirat.«
Alle hatten schon an der Festtafel Platz genommen, da erst wurde Sofias Abwesenheit entdeckt. Eine Dienerin fand ihr Zimmer leer vor. Anjuta, nach ihrer Schwester befragt, gab errötend zur Antwort, sie wisse nichts. Um ihr Gesicht zu verbergen, ließ sie ihre Serviette fallen.
Dem General wurde ein Briefchen gereicht. Er entschuldigte sich und verließ das Zimmer. Sofia und Wladimir sollten bald seine zornigen Schritte vor ihrer Tür hören. Er befahl seiner kompromittierten Tochter und dem Mann, für den sie ihren Ruf opfern wollte, ihn sofort zu begleiten. Sie fuhren nach Hause, alle drei ohne ein Wort zu sagen, und an der Festtafel sagte er: »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen künftigen Schwiegersohn vorzustellen, Wladimir Kowalewski.«
Sofia hatte es geschafft. Sie war überglücklich, nicht, weil sie Wladimir heiraten konnte, sondern weil sie es Anjuta recht machte, indem sie eine Lanze für die Emanzipation der russischen Frauen brach. Es gab eine herkömmliche und prächtige Hochzeit in Palibino, und danach fuhren die frischgebackenen Eheleute ab, um in Petersburg unter einem Dach zu leben.
Und sobald der Weg frei war, begaben sie sich ins Ausland und lebten nicht weiter unter einem Dach. Heidelberg, danach Berlin für Sofia, München für Wladimir. Er besuchte sie in Heidelberg, wenn er
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