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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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großer Dichter.
    Als er sich schließlich dazu überwand, Sofia all das zu gestehen, sagte er auch, dass es viele gab, die an dem Wort »Dichter« im Zusammenhang mit der Mathematik Anstoß nahmen. Und wieder andere, sagte er, griffen diesen Gedanken nur allzu bereitwillig auf, um Konfuses und Verschwommenes in ihrem eigenen Denken zu verteidigen.
     
    Wie sie erwartet hatte, lag draußen vor den Abteilfenstern immer tieferer Schnee, je weiter der Weg nach Osten führte. Dies war ein Zug zweiter Klasse, recht spartanisch im Vergleich zu dem Zug, den sie in Cannes genommen hatte. Es gab keinen Speisewagen, aber kalte Brötchen – einige mit verschiedenen pikanten Wurstsorten belegt – waren vom Teewagen erhältlich. Sie kaufte sich ein mit Käse belegtes Brötchen, halb so groß wie ein Stiefel, und meinte, sie würde nie schaffen, das aufzuessen, aber dann gelang es ihr doch. Sie holte ihren schmalen Band Heine heraus, damit er ihr dabei half, sich die deutsche Sprache in Erinnerung zu rufen.
    Jedes Mal, wenn sie den Blick zum Fenster hob, schien der Schnee dichter zu fallen, manchmal verlangsamte der Zug seine Fahrt und hielt fast an. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie bei diesem Tempo Berlin um Mitternacht erreichte. Sie wünschte, sie hätte sich nicht ausreden lassen, in ein Hotel zu gehen, statt sich im Haus in der Potsdamer Straße einzufinden.
    »Es wird dem armen Karl so guttun, Sie wenigstens für eine Nacht unter seinem Dach zu haben. In seiner Vorstellung sind Sie immer noch das junge Mädchen auf unserer Türschwelle, obwohl er Ihre Leistungen anerkennt und auf Ihren großen Erfolg sehr stolz ist.«
     
    Mitternacht war sogar schon vorüber, als sie auf den Klingelknopf drückte. Clara kam im Morgenrock, da sie das Dienstmädchen zu Bett geschickt hatte. Ihr Bruder – sagte sie im Flüsterton – war vom Lärm der Droschke aufgestört worden, und Elisa war gegangen, um ihn zu beruhigen und ihm zu versichern, dass er Sofia am Morgen sehen werde.
    Das Wort »beruhigen« bereitete Sofia Sorgen. Die Briefe der Schwestern hatten nichts als eine gewisse Erschöpfung erwähnt. Und Weierstraß’ eigene Briefe hatten keine persönlichen Nachrichten enthalten, hatten sich nur um Poincaré gedreht und um seine – Weierstraß’ – Pflicht der Mathematik gegenüber, indem er dem König von Schweden ein Licht aufsteckte.
    Als sie jetzt hörte, wie die Stimme der alten Frau sich bei der Erwähnung ihres Bruders ein wenig andächtig oder ängstlich senkte, als sie jetzt die einst vertrauten und wohltuenden, aber heute Nacht etwas abgestandenen und dumpfigen Gerüche des Hauses einatmete, spürte Sofia, dass Neckereien vielleicht nicht mehr so angebracht waren wie früher, dass sie nicht nur kalte frische Luft hereingebracht hatte, sondern auch eine Hektik des Erfolges, einen Kraftschub, dessen sie sich gar nicht bewusst gewesen war und der ein wenig einschüchternd und verstörend wirken mochte. Sie war es gewohnt, mit Umarmungen und derben Scherzen empfangen zu werden (eine der Überraschungen, die die Schwestern bereithielten, war, wie drollig sie bei aller Bürgerlichkeit sein konnten), und sie wurde immer noch umarmt, aber mit alten, zitternden Armen und mit Tränen, die in verblassten Augen standen.
    Aber warmes Wasser war in dem Krug in ihrem Zimmer, Brot und Butter standen auf ihrem Nachttisch.
    Beim Ausziehen hörte sie schwach aufgeregtes Geflüster draußen auf dem oberen Flur. Es konnte um den Zustand des Bruders gehen oder um sie selbst oder um das Fehlen einer Abdeckung auf dem Brot und der Butter, das vielleicht erst bemerkt worden war, als Clara sie in ihr Zimmer führte.
     
    Als sie mit Weierstraß arbeitete, hatte Sofia in einer kleinen, dunklen Wohnung gehaust, die meiste Zeit über zusammen mit ihrer Freundin Julia, die Chemie studierte. Sie gingen weder in Konzerte noch ins Theater – sie mussten mit wenig Geld auskommen und waren in ihre Arbeit vertieft. Julia ging dazu allerdings außer Haus in ein privates Laboratorium, in dem sie sich Arbeitsmöglichkeiten gesichert hatte, die für eine Frau schwer zu erlangen waren. Sofia verbrachte Tag um Tag an ihrem Schreibtisch und stand manchmal erst von ihrem Stuhl auf, wenn die Lampe angezündet werden musste. Dann reckte sie sich und ging rasch von einem Ende der Wohnung zum anderen – eine nur allzu kurze Entfernung –, brach manchmal in den Laufschritt aus und redete dabei laut vor sich hin, wirres Zeug, so dass jeder, der sie

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