Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
hatte – so mochte er sich präsentieren, und das nicht ohne Wirkung. Und in gewisser Weise stimmte es. Er war körperlich tapfer, er hatte Ideale, er war als Bauernjunge geboren worden und wusste, was es heißt, verachtet zu werden.
Und auch sie hatte ihn gerade eben verachtet.
Das Zimmer war ärmlich, aber wenn man genau hinsah, entdeckte man, dass es so gut wie möglich sauber gehalten wurde. An Nägeln in der Wand hingen ein paar Kochtöpfe. Der Herd, in dem kein Feuer brannte, war geputzt worden, ebenso wie die Böden der Töpfe. Ihr kam der Gedanke, dass eine Frau bei ihm sein konnte, sogar gegenwärtig.
Er redete von Clemenceau und sagte, er stehe mit ihm auf gutem Fuß. Er war jetzt bereit, dachte sie, mit der Freundschaft eines Mannes zu prahlen, den er früher ohne weiteres beschuldigt hätte, im Sold des Britischen Außenministeriums zu stehen (auch wenn sie selbst diesen Vorwurf für aus der Luft gegriffen hielt).
Sie brachte ihn davon ab, indem sie die Sauberkeit der Wohnung lobte.
Er sah sich um, überrascht von dem Themenwechsel, dann lächelte er langsam und mit neuer Rachsucht.
»Es gibt eine Person, mit der ich verheiratet bin, sie sorgt für mein leibliches Wohl. Eine französische Dame, zum Glück, sie ist nicht so geschwätzig und faul wie die Russinnen. Sie ist gebildet, sie ist Gouvernante, wurde aber wegen ihrer politischen Neigungen entlassen. Ich fürchte, ich kann sie dir nicht vorstellen. Sie ist arm, aber anständig und legt immer noch Wert auf ihren guten Ruf.«
»Ah«, sagte Sofia im Aufstehen. »Ich wollte dir sagen, dass ich auch wieder heirate. Einen Herrn aus Russland.«
»Ich hörte, dass du mit Maxim Maximowitsch gehst. Von einer bevorstehenden Heirat habe ich nichts gehört.«
Sofia zitterte vom langen Sitzen in der Kälte. Sie wandte sich an Urij und sprach so fröhlich, wie sie konnte.
»Willst du deine alte Tante zum Bahnhof begleiten? Ich hatte keine Gelegenheit, mich mit dir zu unterhalten.«
»Ich hoffe, ich habe dich nicht gekränkt«, sagte Jaclard voller Gift. »Ich habe immer daran geglaubt, die Wahrheit zu sagen.«
»Nein, gar nicht.«
Urij zog seine Jacke an, die ihm zu groß war, wie sie jetzt sah. Wahrscheinlich auf einem Lumpenmarkt gekauft. Er war gewachsen, aber immer noch nicht größer als Sofia. Vielleicht hatte er in einer wichtigen Phase seines Lebens nicht die richtige Nahrung erhalten. Seine Mutter war groß gewesen, und Jaclard war es immer noch.
Obgleich Urij nicht besonders davon angetan schien, sie zu begleiten, begann er zu reden, noch bevor sie am Fuß der Treppe angelangt waren. Und er hatte sofort ihre Reisetasche genommen, bevor er darum gebeten wurde.
»Er ist zu geizig, um für dich auch nur Feuer anzumachen. Dabei ist im Kasten Feuerholz, sie hat heute Morgen welches raufgeholt. Und sie ist hässlich wie eine Kanalratte, deshalb wollte er nicht, dass du ihr begegnest.«
»So solltest du über Frauen nicht reden.«
»Warum nicht, wenn sie gleich sein wollen?«
»Ich hätte wohl sagen sollen, ›über andere Menschen‹. Aber ich möchte nicht über sie oder deinen Vater reden. Ich möchte über dich reden. Wie kommst du mit deinen Studien voran?«
»Ich hasse sie.«
»Du kannst sie nicht alle hassen.«
»Warum nicht? Es ist gar nicht schwer, sie alle zu hassen.«
»Kannst du mit mir Russisch sprechen?«
»Das ist eine barbarische Sprache. Warum kannst du nicht besser Französisch? Er sagt, dein Akzent ist barbarisch. Er sagt, der Akzent meiner Mutter war auch barbarisch. Russen sind Barbaren.«
»Sagt er das auch?«
»Ich bilde mir mein eigenes Urteil.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.
»Es ist ein bisschen trist in Paris zu dieser Jahreszeit«, sagte Sofia. »Weißt du noch, was für eine schöne Zeit wir in dem Sommer in Sèvres hatten? Wir redeten über alles Mögliche. Fufu kann sich gut an dich erinnern und spricht immer noch von dir. Sie erinnert sich daran, wie sehr du damals kommen und bei uns leben wolltest.«
»Das war kindisch. Ich dachte zu der Zeit nicht realistisch.«
»Und das tust du jetzt? Hast du schon an ein Lebenswerk für dich gedacht?«
»Ja.«
Wegen einer höhnischen Zufriedenheit in seiner Stimme fragte sie nicht weiter. Er sagte es ihr auch ungefragt.
»Ich werde Omnibusschaffner und rufe die Stationen aus. Das habe ich schon gemacht, als ich zur Weihnachtszeit weggelaufen bin, aber er ist gekommen und hat mich zurückgeholt. Wenn ich erst ein Jahr älter bin, wird er
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