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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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das nicht mehr tun können.«
    »Vielleicht wird es dich nicht auf Dauer glücklich machen, die Stationen auszurufen.«
    »Warum nicht? Das ist sehr nützlich. Und immer notwendig. Mathematiker zu sein ist nicht notwendig, so wie ich das sehe.«
    Sie schwieg dazu.
    »Ich hätte keine Achtung vor mir«, sagte er. »Als Mathematikprofessor.«
    Sie stiegen die Treppe zum Bahnsteig hinauf.
    »Preise bekommen und viel Geld einstecken für Dinge, die keiner versteht oder wichtig nimmt und die keinem etwas nutzen.«
    »Danke, dass du meine Tasche getragen hast.«
    Sie gab ihm etwas Geld, wenn auch weniger, als sie beabsichtigt hatte. Er nahm es mit unangenehmem Grinsen, als wolle er sagen: Du dachtest wohl, ich bin zu stolz? Dann bedankte er sich bei ihr, hastig, als tue er es gegen seinen Willen.
    Sie schaute ihm nach, als er ging, und dachte, höchstwahrscheinlich würde sie ihn nie wiedersehen. Anjutas Sohn. Und wie ähnlich er Anjuta denn doch war. Anjuta, die fast jede Familienmahlzeit in Palibino mit ihren hochtrabenden Schmähreden sprengte. Anjuta, die auf den Gartenwegen herumstiefelte, voller Verachtung für ihr gegenwärtiges Leben und Vertrauen in ihr Schicksal, das sie in eine ganz neue und gerechte und unbarmherzige Welt führen werde.
    Urij konnte sich natürlich noch ändern; das ließ sich nicht voraussehen. Möglich sogar, dass er eines Tages eine gewisse Zuneigung für seine Tante Sofia empfand, obwohl wahrscheinlich erst, wenn er so alt war wie sie jetzt und sie lange tot.

III
    Sofias Zug kam erst in einer halben Stunde. Sie hätte gern einen heißen Tee und Halspastillen gehabt, aber sie sah sich außerstande, Schlange zu stehen oder Französisch zu sprechen. Ganz gleichgültig, wie gut man zurechtkommt, solange man bei guter Gesundheit ist, es braucht nur ein wenig Niedergeschlagenheit oder eine Vorahnung von Krankheit, damit man Zuflucht zu der Sprache seiner Kindheit nimmt. Sie setzte sich auf eine Bank und ließ den Kopf sinken. Sie konnte einen Augenblick schlafen.
    Länger als einen Augenblick. Auf der Bahnhofsuhr waren fünfzehn Minuten vergangen. Viele Menschen hatten sich inzwischen eingefunden, um sie herum herrschte geschäftiges Treiben, Gepäckkarren rollten vorbei.
    Als sie zu ihrem Zug eilte, sah sie einen Mann mit einem Pelzhut wie dem von Maxim. Einen großen Mann in einem dunklen Mantel. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Er bewegte sich von ihr fort. Aber seine breiten Schultern, seine höfliche, aber entschiedene Art, sich den Weg zu bahnen, erinnerten sie stark an Maxim.
    Eine hoch mit Gepäck beladene Karre fuhr zwischen ihnen durch, und der Mann war verschwunden.
    Natürlich konnte es nicht Maxim sein. Was hätte er in Paris zu suchen? Zu welchem Zug oder welcher Verabredung könnte er eilen? Ihr Herz pochte unangenehm, als sie in ihren Zug stieg und sich einen Fensterplatz suchte. Es verstand sich von selbst, dass es in Maxims Leben auch andere Frauen gegeben hatte. Zum Beispiel die Frau, die er Sofia nicht vorstellen konnte, als er sich weigerte, sie nach Beaulieu einzuladen. Aber er war ihrer Überzeugung nach nicht der Mann für geschmacklose Verwicklungen. Noch viel weniger für Eifersuchtsanfälle, Tränenausbrüche und Vorwürfe. Er hatte ihr damals zu verstehen gegeben, dass sie keine Rechte, keinen Anspruch auf ihn hatte.
    Was doch bestimmt bedeutete, dass er jetzt der Ansicht sein musste, sie habe einigen Anspruch, und es unter seiner Würde fand, sie zu betrügen.
    Und als sie meinte, ihn zu sehen, war sie gerade aus einem unnatürlichen, ungesunden Schlaf erwacht. Sie hatte halluziniert.
    Der Zug raffte sich mit dem üblichen Schnaufen und Rasseln auf und glitt langsam unter dem Bahnhofsdach hervor.
    Wie sehr sie Paris immer geliebt hat. Nicht das Paris der Kommune, als sie beständig unter Anjutas erregten und manchmal unverständlichen Anweisungen stand, sondern das Paris, das sie später besuchte, als erwachsene Frau, mit Empfehlungsschreiben an Mathematiker und politische Denker. In Paris, so hatte sie erklärt, gebe es nichts Derartiges wie Langeweile oder Dünkel oder Scheinheiligkeit.
     
    Dann hatte man ihr den Prix Bordin verliehen, ihr die Hand geküsst und sie in elegant ausgestatteten, hell erleuchteten Räumen mit Reden und Blumen überhäuft. Aber man hatte die Türen verschlossen, als es darum ging, ihr einen Posten zu verleihen. Das kam ebenso wenig in Frage wie die Einstellung eines dressierten Schimpansen. Die Frauen der großen Wissenschaftler

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