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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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konnte, aber nachdem Anjuta und ihre Freundin Schanna sowie Julia dort eingetroffen waren – alle vier Frauen standen theoretisch unter seinem Schutz –, war dort nicht mehr genug Platz für ihn.
    Weierstraß ließ die Frauen nichts davon wissen, dass er mit der Gemahlin des Generals in Briefwechsel gestanden hatte. Er hatte ihr geschrieben, als Sofia aus der Schweiz (in Wahrheit aus Paris) zurückkam und so erschöpft und angegriffen aussah, dass er um ihre Gesundheit fürchtete. Die Mutter hatte geantwortet und ihm mitgeteilt, dass nicht die Schweiz, sondern Paris in diesen höchst gefährlichen Zeiten am Zustand ihrer Tochter schuld war. Aber die politischen Unruhen, die ihre Töchter durchlebt hatten, schienen sie weniger zu bestürzen als die Entdeckung, dass die eine, obwohl unverheiratet, offen mit einem Mann zusammenlebte, während die andere, rechtmäßig verheiratete keineswegs mit ihrem Ehemann zusammenlebte. So wurde er ganz gegen seinen Willen zum Vertrauten der Mutter gemacht, noch bevor die Tochter sich ihm anvertraute. Und tatsächlich erzählte er Sofia nichts davon, bis ihre Mutter starb.
    Und als er es ihr schließlich erzählte, berichtete er auch, dass Clara und Elisa sofort gefragt hatten, was nun zu tun sei.
    Es scheine in der Natur der Frauen zu liegen, sagte er, stets zu denken, dass etwas getan werden müsse.
    Er hatte ihnen sehr streng geantwortet: »Nichts.«
     
    Am Morgen nahm Sofia ein sauberes, wenn auch zerknittertes Kleid aus ihrer Reisetasche – sie hatte nie gelernt, ordentlich zu packen –, ordnete ihre lockigen Haare so gut sie konnte, um einige kleine graue Stellen zu verbergen, und kam zu den Geräuschen eines bereits geschäftigen Haushalts herunter. Ihr Platz war der einzige im Esszimmer, der noch gedeckt war. Elisa brachte den Kaffee und das erste deutsche Frühstück, das Sofia je in diesem Haus gegessen hatte – kaltes aufgeschnittenes Bratenfleisch, Käse und dick mit Butter bestrichenes Brot. Sie sagte, dass Clara oben sei, um den Bruder für sein Treffen mit Sofia herzurichten.
    »Anfangs ließen wir den Barbier kommen«, sagte sie. »Aber dann hat Clara gelernt, es recht gut zu machen. Wie sich herausstellte, besitzt sie die Talente einer Krankenschwester, es ist ein Glück, dass eine von uns sie hat.«
    Noch bevor sie das sagte, hatte Sofia gespürt, dass sie in Geldnöten waren. Die Damastvorhänge und Tüllgardinen sahen vergraut aus, das silberne Besteck, das sie benutzte, war längere Zeit nicht mehr geputzt worden. Durch die offene Tür zum Wohnzimmer war eine grobschlächtige junge Frau zu sehen, offenbar das gegenwärtige Dienstmädchen, die Asche aus dem Kamin schaufelte und Staubwolken aufwirbelte. Elisa sah in ihre Richtung, als wolle sie sie auffordern, die Tür zu schließen, dann stand sie auf und tat es selbst. Sie kehrte mit gesenktem, errötetem Gesicht an den Tisch zurück, und Sofia fragte hastig, wenn auch recht unhöflich danach, woran denn Herr Weierstraß leide.
    »Zum einen ist es eine Herzschwäche, und von der Lungenentzündung, die er im Herbst hatte, will er sich nicht recht erholen. Außerdem hat er ein Gewächs in den Fortpflanzungsorganen«, sagte Elisa mit gesenkter Stimme, aber mit der Freimütigkeit deutscher Frauen.
    Clara erschien in der Tür.
    »Er erwartet Sie jetzt.«
    Sofia stieg die Treppe hinauf und dachte dabei nicht an den Professor, sondern an diese beiden Frauen, die ihn zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht hatten. Sie strickten Schals, besserten die Wäsche aus und bereiteten das Eingemachte und die Süßspeisen zu, die man keinem Dienstmädchen anvertrauen konnte. Sie besuchten die evangelischen Gottesdienste wie ihr Bruder auch – in Sofias Augen eine kalte und wenig unterhaltsame Konfession –, und all das, soweit man sehen konnte, ohne einen Augenblick der Meuterei oder ein Aufflackern der Unzufriedenheit.
    Ich würde verrückt werden, dachte sie.
    Sogar als Professor, dachte sie, würde ich verrückt werden. Studenten haben, ganz allgemein gesprochen, einen mittelmäßigen Geist, dem sich nur die offensichtlichsten, regelmäßigsten Muster aufprägen lassen.
    Vor ihrer Beziehung mit Maxim hätte sie nicht gewagt, sich das einzugestehen.
    Sie betrat das Schlafzimmer mit einem Lächeln auf dem Gesicht, vor Freude über ihr Glück, ihre kommende Freiheit, ihren künftigen Ehemann.
    »Ah, da sind Sie ja endlich«, sagte Weierstraß ein wenig schwach und mühsam. »Das ungezogene Kind, dachten wir, sie hat

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