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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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uns verlassen. Sind Sie wieder auf dem Weg nach Paris, um sich zu amüsieren?«
    »Ich komme gerade aus Paris«, sagte Sofia. »Ich kehre nach Stockholm zurück. Paris war überhaupt nicht amüsant, es war ungemein trübselig.« Sie gab ihm ihre Hände, damit er sie küssen konnte, eine nach der anderen.
    »Ist etwa Ihre Anjuta krank?«
    »Sie ist tot, mein lieber Professor.«
    »Starb sie im Gefängnis?«
    »Nein, nein. Das ist lange her. Zu der Zeit war nicht sie im Gefängnis, sondern ihr Mann. Sie ist an Lungenentzündung gestorben, aber sie war schon lange schwer leidend.«
    »Ach, Lungenentzündung, die habe ich auch gehabt. Das muss traurig für Sie gewesen sein.«
    »Mein Herz wird nie heilen. Aber ich habe Ihnen etwas Gutes zu erzählen, etwas Glückliches. Ich werde im Frühjahr heiraten.«
    »Lassen Sie sich von dem Geologen scheiden? Das wundert mich nicht, Sie hätten das längst tun sollen. Trotzdem ist eine Scheidung immer unangenehm.«
    »Der ist auch schon tot. Außerdem war er Paläontologe. Das ist eine neue Wissenschaft, sehr interessant. Man gewinnt Erkenntnisse aus Fossilien.«
    »Ja. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe davon gehört. Er ist also jung gestorben. Ich wünschte mir, er würde Ihnen nicht im Weg stehen, aber ich habe mir wahrhaftig nicht seinen Tod gewünscht. Musste er lange leiden?«
    »Das könnte man so sagen. Sie erinnern sich gewiss daran, wie ich ihn verließ und Sie mich Mittag-Leffler empfahlen?«
    »In Stockholm. Ja? Sie verließen ihn also. Nun, das musste wohl getan werden.«
    »Ja. Aber das ist jetzt vorbei, und ich werde einen Mann mit demselben Namen heiraten, mit dem ich aber nicht eng verwandt bin und der völlig anders ist.«
    »Also ein Russe? Deutet er auch Fossilien?«
    »Keineswegs. Er ist Professor der Jurisprudenz. Er ist sehr tatkräftig und sehr wohlgemut, außer wenn er sehr niedergeschlagen ist. Ich werde ihn mitbringen und Ihnen vorstellen, und Sie werden sehen.«
    »Es wird uns ein Vergnügen sein, ihn zu Gast zu haben«, sagte Weierstraß traurig. »Das wird Ihrer Arbeit ein Ende setzen.«
    »Überhaupt nicht, überhaupt nicht. Er wünscht es nicht. Aber ich werde keine Vorlesungen mehr halten müssen, ich werde frei sein. Und ich werde in einem angenehmen Klima im Süden von Frankreich leben, ich werde dort die ganze Zeit über gesund sein und umso mehr arbeiten.«
    »Wir werden sehen.«
    »Mein Lieber«, sagte sie. »Ich befehle Ihnen, sich für mich zu freuen.«
    »Ich muss Ihnen sehr alt vorkommen«, sagte er. »Und ich habe ein geruhsames Leben geführt. Ich bin von Natur aus nicht so vielseitig wie Sie. Es hat mich sehr überrascht, dass Sie Romane schreiben.«
    »Das hat Ihnen nicht gefallen.«
    »Sie irren sich. Ich mochte Ihre Jugenderinnerungen. Sehr unterhaltsam zu lesen.«
    »Das war eigentlich kein Roman. Das Buch, das ich jetzt geschrieben habe, würde Ihnen nicht gefallen. Manchmal gefällt es mir sogar selbst nicht. Es handelt von einer jungen Frau, die sich mehr für die Politik als für die Liebe interessiert. Aber Sie werden es nicht lesen müssen. Die russischen Zensoren werden es nicht drucken lassen, und die Welt draußen wird es nicht haben wollen, weil es so russisch ist.«
    »Im Allgemeinen bin ich kein Freund von Romanen.«
    »Die sind nur etwas für Frauen?«
    »Es ist wahr, manchmal vergesse ich, dass Sie eine Frau sind. Für mich sind Sie so etwas wie …«
    »Wie was?«
    »Wie ein Geschenk, und zwar eines für mich ganz allein.«
    Sofia beugte sich vor und küsste seine weiße Stirn. Sie hielt ihre Tränen zurück, bis sie sich von seinen Schwestern verabschiedet und das Haus verlassen hatte.
    Ich werde ihn nie wiedersehen, dachte sie.
    Sie dachte an sein Gesicht, so weiß wie die frisch gestärkten Kissen, die Clara ihm erst morgens unter den Kopf geschoben haben musste. Vielleicht hatte sie sie schon wieder weggenommen und ihn wieder in die weicheren, fadenscheinigeren darunter sinken lassen. Vielleicht war er sofort eingeschlafen, ermüdet von seinem Gespräch mit ihr. Vermutlich hatte er gedacht, dass sie sich zum letzten Mal begegneten, und hatte gewusst, dass auch ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, hatte aber nicht gewusst – das war ihre Schande, ihr Geheimnis –, wie erleichtert, wie frei sie sich jetzt trotz ihrer Tränen fühlte, freier mit jedem Schritt fort von diesem Haus.
    War sein Leben, dachte sie, alles in allem denn nun so sehr viel erfüllter als das seiner Schwestern?
    Sein Name würde eine

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