Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Weile überdauern, in Lehrbüchern. Und unter Mathematikern. Allerdings nicht so lange, wie er vielleicht hätte überdauern können, wenn Weierstraß mehr Ehrgeiz darauf verwendet hätte, seinen Ruf zu festigen und sich an die Spitze jener erlesenen und eifersüchtigen kleinen Gemeinde zu setzen. Aber er nahm seine Arbeit wichtiger als seinen Namen, wo doch für so viele seiner Kollegen beides gleich wichtig war.
Sie hätte nicht von ihrer Schriftstellerei sprechen sollen. Für ihn eine Spielerei. Sie hatte die Erinnerungen an ihr Leben in Palibino mit glühender Liebe zu all dem Verlorenen niedergeschrieben, zu all dem, woran sie einst verzweifelt war, was ihr einst lieb und teuer war. Sie hatte sie weit fort von zu Hause niedergeschrieben, als es dieses Zuhause nicht mehr gab und ihre Schwester nicht mehr lebte. Und
Die Nihilistin
entsprang ihrem Schmerz um ihr Land, einer Aufwallung von Patriotismus und vielleicht einem Gefühl, dass sie dem zu wenig Beachtung geschenkt hatte, bei all ihrer Mathematik und den Tumulten in ihrem Leben.
Schmerz um ihr Land, ja. Aber in gewissem Sinne hatte sie diese Geschichte Anjuta zu Ehren geschrieben. Es war die Geschichte einer jungen Frau, die jede Aussicht auf ein normales Leben aufgibt, um einen politischen Häftling zu heiraten, der nach Sibirien verbannt worden ist. Auf diese Weise stellt sie sicher, dass sein Leben, seine Bestrafung etwas gemildert und er nach Süd- statt Nordsibirien verbannt wird, wie es die Regel für Männer war, die von ihren Ehefrauen begleitet wurden. Die Geschichte würde sicher von jenen verbannten Russen gelobt werden, denen es gelang, sie im Manuskript zu lesen. Einem Buch musste in Russland nur die Veröffentlichung verwehrt werden, um unter den politischen Exilanten Jubel hervorzurufen, wie Sofia sehr wohl wusste.
Die Geschwister Rajewski
– ihre Jugenderinnerungen – gefielen ihr besser, obwohl der Zensor das Buch genehmigt hatte und einige Kritiker es als nostalgisch abtaten.
IV
Sie hatte Weierstraß schon einmal enttäuscht. Und zwar, nachdem sie ihren ersten Erfolg erzielt hatte. Sie musste es zugeben, auch wenn er es nie zur Sprache brachte. Sie hatte ihm und der ganzen Mathematik den Rücken gekehrt; sie hatte nicht einmal seine Briefe beantwortet. Im Sommer 1874 fuhr sie zurück nach Palibino, mit ihrer Doktorurkunde in einer mit Samt ausgeschlagenen Schatulle, die in einer Truhe landete, um monatelang, jahrelang vergessen zu werden.
Der Geruch der Wiesen und der Nadelwälder, die goldenen heißen Sommertage und die langen hellen Abende des nördlichen Russland berauschten sie. Es gab Picknicks und Liebhaberaufführungen, Bälle, Geburtstage und Besuche willkommener alter Freunde, außerdem war Anjuta da, glücklich mit ihrem einjährigen Sohn. Wladimir war ebenfalls anwesend, und in der entspannten Sommerstimmung, mit der Wärme, dem Wein und den langen fröhlichen Mahlzeiten, dem Tanzen und Singen, war es ganz natürlich, ihm nachzugeben, ihn nach all der Zeit als formeller Ehemann nun auch als Liebhaber anzunehmen.
Das geschah nicht, weil sie sich in ihn verliebt hatte. Sie war ihm seit langem dankbar und hatte sich fest eingeredet, dass es solch ein Gefühl wie Liebe im wirklichen Leben nicht gab. Es würde sie beide glücklicher machen, dachte sie, in das einzuwilligen, was er wollte, und für eine Weile tat es das auch.
Im Herbst begaben sie sich nach Petersburg, und das Leben wichtiger Vergnügungen ging weiter. Soupers, Theateraufführungen, Empfänge, und es gab alle Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, die Klatschblätter und auch die seriösen. Weierstraß flehte Sofia in seinen Briefen an, die Welt der Mathematik nicht im Stich zu lassen. Er sorgte dafür, dass ihre Dissertationsschrift im
Crelle-Journal
, einer angesehenen mathematischen Fachzeitschrift, veröffentlicht wurde. Sie warf kaum einen Blick darauf. Er bat sie, eine Woche – nur eine Woche – darauf zu verwenden, ihrer Arbeit über die Saturnringe den letzten Schliff zu geben, damit auch die veröffentlicht werden konnte. Sie wollte nichts davon hören. Sie war viel zu beschäftigt, völlig in Anspruch genommen von all dem, was es zu feiern gab. Namenstage, Empfänge bei Hofe, neue Opern und Ballette, aber in Wahrheit, so schien es, feierte sie das Leben selbst.
Sie lernte recht spät, was viele Menschen um sie herum offenbar schon seit ihrer Kindheit wussten – dass das Leben auch ohne eine bedeutende eigene Leistung vollkommen
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