Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
zufriedenstellend sein kann. Es konnte randvoll mit Beschäftigungen sein, die einen nicht bis zur Erschöpfung auslaugten. Wenn man das erwarb, was für ein komfortables Leben nötig war, und danach ein unterhaltsames Gesellschaftsleben führte, dann war man nie gelangweilt oder müßig und hatte am Ende des Tages das Gefühl, genau das getan zu haben, was allen gefiel. Man musste sich nicht den Kopf zerbrechen.
Außer darüber, wie Geld zu beschaffen war.
Wladimir betrieb wieder seinen Verlag. Sie liehen sich Geld, wo sie nur konnten. Dann starben Sofias Eltern kurz nacheinander, und ihr Erbe wurde in öffentliche Bäder in Verbindung mit einem Gewächshaus, einer Bäckerei und einer Dampfwäscherei investiert. Sie hatten große Pläne. Aber das Wetter in Petersburg gestaltete sich wärmer als gewöhnlich, was den Leuten die Lust auf Dampfbäder nahm. Die Handwerker und andere betrogen sie, der Markt brach zusammen, und statt sich eine solide Grundlage für ihr Leben zu schaffen, gerieten sie immer tiefer in Schulden.
Und ihr Zusammenleben als normales Ehepaar hatte das übliche Ergebnis. Sofia bekam ein Kind, ein kleines Mädchen. Es erhielt den Namen seiner Mutter, wurde aber von allen Fufu genannt. Fufu hatte eine Amme und ein Kindermädchen und eine eigene Zimmerflucht. Die Familie beschäftigte auch eine Köchin und ein Dienstmädchen. Wladimir kaufte modische neue Kleider für Sofia und wundervolle Geschenke für seine Tochter. Er erhielt seinen Doktorgrad von der Universität Jena, und es gelang ihm, eine Assistenzprofessur in Petersburg zu ergattern, aber das genügte nicht. Außerdem warf der Verlag so gut wie nichts mehr ab.
Dann wurde der Zar ermordet, die politische Lage destabilisierte sich, und Wladimir versank in einer so tiefen Melancholie, dass er weder arbeiten noch denken konnte.
Weierstraß hatte vom Tod der Eltern Sofias gehört, und um ihren Kummer ein wenig zu lindern, wie er schrieb, schickte er ihr Einzelheiten über sein eigenes exzellentes neues Integralsystem. Aber statt sich wieder für die Mathematik zu begeistern, schrieb sie Theaterkritiken und populärwissenschaftliche Zeitungsartikel. Damit nutzte sie ein Talent, das sich besser vermarkten ließ und nicht so verstörend für andere und so anstrengend für sie selbst war wie die Mathematik.
Die Familie Kowalewski zog nach Moskau, in der Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren.
Wladimir erholte sich, fühlte sich aber nicht in der Lage, wieder zu unterrichten. Er fand eine neue Spekulationsmöglichkeit, denn ihm wurde ein Posten in einer Gesellschaft angeboten, die aus einer Erdölquelle Naphta produzierte. Die Gesellschaft gehörte den Brüdern Ragozin, die an der Wolga eine Raffinerie und einen modernen Palast besaßen. Der Posten war an die Auflage gebunden, dass Wladimir eine bestimmte Summe Geldes investierte, die er sich dafür borgte.
Aber diesmal hatte Sofia kein gutes Gefühl. Die Ragozins mochten sie nicht, und sie mochte die Ragozins nicht. Wladimir geriet mehr und mehr unter ihren Einfluss. Das sind die neuen Männer, sagte er, Männer mit kühlem Kopf. Er zog sich von ihr zurück, gab sich barsch und überlegen. Nenne mir eine wahrhaft bedeutende Frau, sagte er. Eine, die wirklich die Welt bewegt hat, und zwar nicht nur durch die Verführung und Ermordung von Männern. Frauen sind von Natur aus rückständig und selbstsüchtig, und wenn sie irgendeine Idee in die Hand bekommen, irgendeine passable Idee, für die sie sich engagieren können, dann werden sie hysterisch und tun sich damit so wichtig, dass sie die Idee zugrunde richten.
Da sprechen die Ragozins, sagte Sofia.
Sie nahm nun ihre Korrespondenz mit Weierstraß wieder auf. Sie ließ Fufu bei ihrer alten Freundin Julia und machte sich auf den Weg nach Deutschland. Sie schrieb Wladimirs Bruder Alexander, Wladimir habe sich so bereitwillig von den Ragozins ködern lassen, dass es ganz danach aussehe, als führe er das Schicksal in Versuchung, ihm einen weiteren Schlag zu versetzen. Trotzdem schrieb sie ihrem Mann und bot ihm an, zu ihm zurückzukommen. Seine Antwort fiel nicht günstig aus.
Sie begegneten sich noch einmal, in Paris. Sofia lebte in bescheidenen Umständen, während Weierstraß sich bemühte, ihr eine Stellung zu besorgen. Sie war wieder in mathematische Probleme vertieft, ebenso wie die Leute, die sie dort kannte. Wladimir war den Ragozins gegenüber misstrauisch geworden, hatte sich aber zu fest an sie gebunden, um sich noch befreien zu
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