Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
können. Dennoch sprach er davon, in die Vereinigten Staaten zu gehen. Was er auch tat, aber er kam zurück.
Im Herbst 1882 schrieb er seinem Bruder, ihm sei jetzt klargeworden, dass er ein völlig wertloser Mensch sei. Im November berichtete er vom Bankrott der Ragozins. Er befürchtete, sie könnten ihn in ihre kriminellen Machenschaften mit hineinziehen. Zu Weihnachten sah er Fufu, die sich jetzt in Odessa bei der Familie seines Bruders befand. Es beglückte ihn, dass sie sich an ihn erinnern konnte, dass sie gesund und aufgeweckt war. Danach verfasste er Abschiedsbriefe an Julia, seinen Bruder und einige ausgewählte Freunde, aber nicht an Sofia. Auch einen Brief an das Gericht, das mit dem Ragozin-Bankrott befasst war, um einige seiner Handlungen zu erklären.
Er zögerte noch eine Weile. Erst im April band er sich einen Sack um den Kopf und atmete Chloroform ein.
Sofia in Paris weigerte sich, irgendetwas zu essen oder ihr Zimmer zu verlassen. Sie konzentrierte all ihre Gedanken auf die Nahrungsverweigerung, damit sie nicht das fühlen musste, was sie fühlte.
Sie wurde schließlich zwangsernährt und fiel in tiefen Schlaf. Als sie erwachte, schämte sie sich zutiefst dafür, wie sie sich aufgeführt hatte. Sie bat um Papier und Bleistift, damit sie an einem mathematischen Problem weiterarbeiten konnte.
Es war kein Geld mehr da. Weierstraß schrieb ihr und lud sie ein, bei ihm als eine weitere Schwester zu leben. Außerdem ließ er seine Beziehungen spielen und hatte schließlich Erfolg in Schweden bei seinem früheren Studenten und jetzigen Freund Mittag-Leffler. Die neugegründete Universität von Stockholm willigte ein, als erste Universität Europas eine Frau auf einen Lehrstuhl für Mathematik zu berufen.
Sofia holte ihre Tochter in Odessa ab und brachte sie zu Julia. Sie war wütend auf die Ragozins. In einem Brief an Wladimirs Bruder nannte sie die beiden »durchtriebene, bösartige Schurken«. Sie erreichte bei dem Richter, der dem Prozess vorsaß, dass er erklärte, alles Beweismaterial zeige, Wladimir sei vertrauensselig, aber ehrlich gewesen.
Dann nahm sie wiederum den Zug von Moskau nach Petersburg, auf dem Weg zu ihrer neuen und allseits vielbeachteten – und zweifellos auch beklagten – Berufung in Schweden. Von Petersburg aus setzte sie die Reise auf dem Wasser fort. Das Schiff glitt in einen überwältigenden Sonnenuntergang. Keine Dummheiten mehr, dachte sie. Von nun an werde ich ein ordentliches Leben führen.
Da war sie Maxim noch nicht begegnet. Und hatte auch noch nicht den Prix Bordin erhalten.
V
Sie verließ Berlin am frühen Nachmittag, kurz nach ihrem traurigen, aber erleichternden Abschied von Weierstraß. Der Zug war alt und langsam, jedoch sauber und gut geheizt, wie man es von einem deutschen Zug erwartete.
Auf halbem Wege schlug der Mann ihr gegenüber seine Zeitung auf und bot ihr jedweden Teil davon zur Lektüre an.
Sie dankte ihm und lehnte ab.
Er wies mit einem Kopfnicken zum Fenster und zu dem feinen Schneetreiben draußen.
»Nun ja«, sagte er. »Was kann man schon erwarten?«
»Ja, was wohl?«, sagte Sofia.
»Sie fahren nach Rostock noch weiter?«
Ihm mochte ein Akzent aufgefallen sein, der nicht deutsch war. Sie hatte nichts dagegen, dass er sie ansprach und zu solch einer Schlussfolgerung kam. Er war ein ganzes Stück jünger als sie, anständig gekleidet, ein wenig unterwürfig. Sie hatte das Gefühl, dass er jemand war, den sie schon einmal gesehen hatte. Aber das konnte ohne weiteres geschehen, wenn man viel reiste.
»Nach Kopenhagen«, sagte sie. »Und dann nach Stockholm. Für mich wird der Schnee nur immer dichter.«
»Ich werde Sie in Rostock verlassen«, sagte er, vielleicht um ihr zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht auf ein langes Gespräch mit ihm einzulassen brauchte. »Sind Sie zufrieden mit Stockholm?«
»Ich verabscheue Stockholm zu dieser Jahreszeit. Ich hasse es.«
Sie staunte über sich selbst. Aber er lächelte erfreut und fing an, Russisch zu sprechen.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er. »Ich hatte recht. Jetzt bin ich es, der für Sie wie ein Ausländer spricht. Aber ich habe einmal in Russland studiert. In Petersburg.«
»Sie haben meinen Akzent als russisch erkannt?«
»Nicht mit Gewissheit. Bis Sie das über Stockholm sagten.«
»Hassen alle Russen Stockholm?«
»Nein, nein. Aber sie sagen, sie hassen. Sie hassen. Sie lieben.«
»Ich hätte das nicht sagen sollen. Die Schweden sind sehr gut zu mir gewesen. Sie
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