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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zu und verließ sie.
    »Danke sehr! Danke sehr!«, rief sie ihm nach.
     
    Sofia ist noch nie in ihrem Leben betrunken gewesen. Wenn sie Arzneien nahm, die das Gehirn verwirren konnten, so wurde sie davon in Schlaf versetzt, bevor irgendeine solche Störung eintrat. Sie hat also nichts, mit dem sie es vergleichen kann, dieses außergewöhnliche Gefühl, das sie jetzt durchpulst, diese Veränderung der Wahrnehmung. Anfangs mag es nur eine Erleichterung gewesen sein, ein großartiges, wenn auch lächerliches Gefühl, auserwählt zu sein, weil sie es geschafft hat, ihre Taschen zu tragen und die Treppe hinaufzurennen und ihren Zug zu erreichen. Und dann hat sie den Hustenanfall und den Krampf in ihrem Herzen überlebt und irgendwie ihren schlimmen Hals verdrängt.
     
    Aber da ist mehr, als dehne sich ihr Herz aus, erreiche wieder seinen normalen Zustand und fahre danach fort, leichter und frischer zu schlagen und ihr alles beinahe lustig aus dem Weg zu pusten. Sogar die Epidemie in Kopenhagen konnte jetzt so etwas wie die Pest in einer Ballade werden, Teil einer uralten Geschichte. Wie ihr eigenes Leben auch, dessen Rückschläge und Kümmernisse zu Einbildungen wurden. Ereignisse und Ideen nahmen eine neue Form an, erblickt durch das Fenster des klaren Verstandes, durch ein verwandelndes Glas.
     
    Es gab ein Erlebnis, an das ihr Zustand sie erinnerte. Nämlich als sie im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal auf die Trigonometrie gestoßen war. Professor Tyrtow, ein Nachbar in Palibino, hatte das neue Lehrbuch, das er verfasst hatte, vorbeigebracht. Er dachte, es könne ihren Vater, den General, bei seinen Kenntnissen der Artillerie interessieren. Sie fand es im Arbeitszimmer vor und schlug es zufällig bei dem Kapitel über die Optik auf. Sie fing an zu lesen und die graphischen Darstellungen zu studieren und war überzeugt, dass sie binnen kurzem fähig sein werde, alles zu verstehen. Sie hatte noch nie etwas vom Sinus oder Cosinus gehört, aber indem sie den Sinus durch eine Bogensehne ersetzte und durch den glücklichen Umstand, dass bei kleinen Winkeln beide nahezu übereinstimmen, gelang es ihr, in diese neue und wunderbare Sprache einzudringen.
    Sie war damals gar nicht sonderlich überrascht, nur ungeheuer glücklich.
    Solche Entdeckungen geschahen immer wieder. Die Mathematik war ein Geschenk der Natur, wie die Nordlichter. Sie hatte mit nichts anderem auf der Welt zu tun, nicht mit Publikationen, Preisen, Kollegen oder Ernennungsurkunden.
    Der Schaffner weckte sie kurz bevor der Zug Stockholm erreichte. Sie fragte: »Welcher Tag ist heute?«
    »Heute ist Freitag.«
    »Gut. Dann werde ich meine Vorlesung halten können.«
    »Achten Sie auf Ihre Gesundheit, gnädige Frau.«
     
    Um zwei Uhr stand sie hinter dem Katheder und dozierte klar und schlüssig, ohne Schmerzen oder Husten. Das feine Summen, das ihren Körper durchlief wie einen Draht, beeinträchtigte ihre Stimme nicht. Und ihr Hals schien von selbst geheilt zu sein. Als sie geendet hatte, ging sie nach Hause, zog sich um und nahm eine Droschke zu dem Empfang, zu dem sie eingeladen war, im Haus der Guldens. Sie war guter Laune, sprach angeregt von ihren Eindrücken aus Italien und dem Süden Frankreichs, wenn auch nicht über ihre Rückfahrt nach Schweden. Dann verließ sie das Zimmer, ohne sich zu entschuldigen, und ging aus dem Haus. Sie war zu erfüllt von leuchtenden und außerordentlichen Ideen, um noch länger mit irgendjemandem plaudern zu können.
    Draußen Dunkelheit, Schneefall, kein Wind, die Straßenlaternen schimmernd wie Weihnachtsbaumkugeln. Sie blickte sich nach einer Droschke um, aber es war keine zu sehen. Ein Omnibus kam, und sie winkte ihn heran. Der Fahrer sagte ihr, dass hier keine Haltestelle sei.
    »Aber Sie haben gehalten«, erwiderte sie unbeeindruckt.
    Sie kannte sich in den Straßen von Stockholm nicht besonders gut aus, deshalb dauerte es eine Weile, bis sie merkte, dass sie zu einem falschen Stadtteil fuhr. Sie lachte, als sie das dem Fahrer erklärte, und er ließ sie aussteigen, so dass sie durch den Schnee in ihrem Gesellschaftskleid, ihrem leichten Mantel und ihren dünnen Schuhen nach Hause gehen musste. Das Straßenpflaster war wundervoll still und weiß. Sie musste ungefähr eine Meile weit laufen, freute sich aber, dass sie sich zurechtfand. Ihre Schuhe waren bald durchnässt, dennoch war ihr nicht kalt. Sie dachte, das liege an der Windstille und an der Verzauberung ihres Körpers und ihres Geistes, die sie so

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