Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
ein Heiligenfest. Ein alter Mann, dessen einzige Aufgabe es war, den Hof zu fegen, lachte und nannte sie die kleine Dame. »Die kleine Dame ist gekommen, um uns alles Gute zu wünschen.« Dann brachten einige Hochrufe auf sie aus. Wie freundlich sie sind, dachte sie, obwohl sie verstand, dass die Hochrufe eine Art von Scherz waren.
Bald erschien die Gouvernante mit einem Gesicht wie eine schwarze Wolke und holte sie fort.
Danach ging alles so weiter wie bisher.
Jaclard hatte zu Anjuta gesagt, sie könne nie eine echte Revolutionärin sein, sie tauge nur dazu, ihre verbrecherischen Eltern um Geld anzugehen. Was Sofia und Wladimir anbelangte (Wladimir, der ihn den Fängen der Polizei entrissen hatte), so waren sie aufgeputzte Schmarotzer, die sich mit wertlosem Wissen vollstopften.
Ihr wird etwas übel von dem Geruch nach Sauerkraut und Hering.
Einige Zeit später hält der Zug an, und es heißt, alle müssen aussteigen. Zumindest schließt sie das aus dem Gebell des Schaffners und den Bewegungen widerwilliger, aber gehorsamer Körper. Die Fahrgäste landen in knietiefem Schnee, ohne dass eine Stadt oder ein Bahnhof in Sicht wären, nur glatte weiße Hügel sind ringsum durch den jetzt nur noch leichten Schneefall zu sehen. Vor dem Zug schaufeln Männer den Schnee weg, der sich in einer Senke auf den Gleisen gesammelt hat. Sofia geht umher, damit ihre Füße nicht in den leichten Stiefeletten erfrieren, die für Großstadtstraßen ausreichen, aber hier nicht. Die anderen Fahrgäste stehen still und verlieren kein Wort über die Lage der Dinge.
Nach einer halben Stunde oder vielleicht auch nach fünfzehn Minuten sind die Gleise frei, und die Reisenden klettern wieder in den Zug. Es muss ihnen allen, ebenso wie Sofia, ein Rätsel sein, warum sie überhaupt aussteigen mussten, statt auf ihren Plätzen zu warten, aber natürlich beschwert sich niemand. Der Zug fährt und fährt, die Dunkelheit ist hereingebrochen, und etwas anderes als Schnee treibt gegen die Fenster. Ein kratzendes, bösartiges Geräusch. Hagelschloßen.
Dann die trüben Lichter eines Städtchens, einige Fahrgäste stehen auf, mummeln sich sorgfältig ein, greifen sich ihre Gepäckstücke, steigen aus und verschwinden. Die Fahrt geht weiter, aber nach kurzer Zeit müssen sie alle wieder den Zug verlassen. Diesmal nicht wegen Schneeverwehungen. Sie werden auf ein Schiff geleitet, eine weitere kleine Fähre, die auf das schwarze Wasser hinaustuckert. Sofias Hals tut jetzt so weh, dass sie sicher ist, nicht sprechen zu können, auch wenn sie müsste.
Sie hat keine Ahnung, wie lange diese Überfahrt dauert. Als sie anlegen, müssen sie sich in einen Schuppen mit nur drei Wänden begeben, in dem es wenig Schutz und keine Bänke gibt. Nach einer schier endlosen Wartezeit trifft ein Zug ein. Sofia ist nur noch dankbar, dass dieser Zug kommt, obwohl er auch nicht wärmer ist als der erste und nur die gleichen Holzbänke zu bieten hat. Die Wertschätzung geringster Bequemlichkeiten scheint davon abzuhängen, welche Not man zuvor durchlitten hat. Und ist das nicht, möchte sie jemandem sagen, eine traurige Moralpredigt?
Nach einer Zeit halten sie in einer größeren Stadt, wo es ein Bahnhofsrestaurant gibt. Sie ist zu müde, um auszusteigen und sich auf den Weg dahin zu machen, wie einige Reisende es tun, die mit dampfenden Kaffeetassen zurückkommen. Die Frau, die das Sauerkraut gegessen hat, kommt mit zwei Tassen zurück, und es stellt sich heraus, eine davon ist für Sofia. Sofia lächelt und tut ihr Bestes, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Die Frau nickt, als sei dieses Getue unnötig, sogar ungebührlich. Aber sie bleibt stehen, bis Sofia die dänischen Münzen hervorholt, die sie von dem Schalterbeamten erhalten hat. Die Frau nimmt sich seufzend zwei davon mit ihren feuchten Handschuhfingern. Wahrscheinlich der Preis des Kaffees. Der Gedanke und das Bringen sind umsonst. So ist das hier. Ohne ein Wort kehrt die Frau an ihren Platz zurück.
Einige neue Fahrgäste sind eingestiegen. Eine Frau mit einem etwa vier Jahre alten Kind, dessen eine Gesichtshälfte bandagiert ist und das einen Arm in der Schlinge trägt. Ein Unfall, ein Besuch im Kreiskrankenhaus. Ein Loch in dem Verband zeigt ein trauriges dunkles Auge. Das Kind legt den Kopf mit der guten Wange nach unten in den Schoß der Mutter, und die breitet einen Teil ihres Umhängetuchs über den Körper des Kindes. Sie tut das auf eine Weise, die nicht besonders zärtlich oder besorgt ist,
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