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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sondern ein wenig mechanisch. Etwas Schlimmes ist passiert, noch mehr Fürsorge wird ihr abverlangt, das ist alles. Dazu die Kinder, die zu Hause warten, und vielleicht noch eins in ihrem Bauch.
    Wie schrecklich ist das, denkt Sofia. Wie schrecklich ist das Los der Frauen. Und was würde wohl diese Frau sagen, wenn Sofia ihr von den neuen Bestrebungen erzählte, vom Kampf der Frauen um das Wahlrecht und die Zulassung zu den Universitäten? Sie würde wohl sagen: Aber das ist nicht Gottes Wille. Und wenn Sofia sie drängte, sich von diesem Gott zu befreien und ihren Geist zu schärfen, würde sie dann nicht Sofia erschöpft und mit gleichsam störrischem Mitleid anschauen und sagen: Wie sollen wir denn ohne Gott durch dieses Leben kommen?
    Sie überqueren wieder schwarzes Wasser, diesmal auf einer langen Brücke, und halten in einem weiteren Städtchen, wo die Frau mit dem Kind aussteigt. Sofia hat das Interesse an ihr verloren, schaut nicht hinaus, um zu sehen, ob jemand auf sie wartet, sondern versucht, die Uhr draußen auf dem Bahnsteig im Licht des Zuges zu erkennen. Sie erwartet, dass es auf Mitternacht geht, aber es ist erst kurz nach zehn.
    Sie denkt an Maxim. Würde Maxim je im Leben in einen solchen Zug steigen? Sie stellt sich vor, wie ihr Kopf bequem an seiner breiten Schulter ruht – obwohl er in Wahrheit so etwas in der Öffentlichkeit nicht schätzt. Sein Mantel aus feinem, teurem Tuch, dessen Geruch nach Geld und Luxus. Er glaubt, er hat ein Recht auf die guten Dinge des Lebens und die Pflicht, sie zu bewahren, und das, obwohl er ein in seinem eigenen Land unwillkommener Liberaler ist. Dieses wunderbare Selbstvertrauen, das er hat und das auch ihr Vater hatte, du kannst es spüren, wenn du ein kleines Mädchen bist und dich in ihre Arme schmiegst, und du möchtest es dein ganzes Leben lang spüren. Noch wundervoller natürlich, wenn sie dich lieben, aber tröstlich sogar, wenn es nur eine Art von edlem Gelübde ist, das sie vor langer Zeit abgelegt haben, eine Verpflichtung, die sie selbstverständlich, wenn auch nicht begeistert eingegangen sind, dich zu beschützen.
    Es würde ihnen sehr missfallen, wenn irgendjemand sie fügsam nennen würde, doch in gewisser Weise sind sie es. Sie unterwerfen sich dem männlichen Verhaltenskodex und damit all seinen Risiken und Grausamkeiten, seinen komplizierten Bürden und bewussten Täuschungen. Seinen Regeln, von denen man als Frau in einigen Fällen profitiert, in anderen wiederum nicht.
    Jetzt sieht sie ihn vor sich – Maxim, der sie überhaupt nicht beschützt, sondern durch den Bahnhof in Paris schreitet, wie es einem Mann mit Privatleben zukommt.
    Seine achtunggebietende Kopfbedeckung, seine höfliche Selbstsicherheit.
    So ist es nicht gewesen. Das war nicht Maxim. Ganz bestimmt nicht.
     
    Wladimir war nie ein Feigling – man denke nur, wie er Jaclard gerettet hatte –, aber er besaß nicht die männlichen Gewissheiten. Deshalb konnte er ihr im Gegensatz zu jenen anderen einige Gleichberechtigung gewähren, ihr aber nie diese einhüllende Wärme und Sicherheit geben. Dann, gegen Ende, als er unter den Einfluss der Ragozins geriet und andere Saiten aufzog – verzweifelt, wie er war, und aus dem Gedanken, dass er sich retten könnte, indem er andere nachäffte –, gewöhnte er sich an, sie in einem wenig überzeugenden, sogar lächerlichen gebieterischen Stil zu behandeln. Er hatte ihr damit einen Vorwand geliefert, ihn zu verachten, aber vielleicht hatte sie ihn schon immer verachtet. Ob er sie nun anbetete oder beleidigte, sie konnte ihn einfach nicht lieben.
    Wie Anjuta Jaclard liebte. Jaclard war selbstsüchtig und grausam und treulos, doch selbst während sie ihn hasste, liebte sie ihn.
    Was für hässliche und verdrießliche Gedanken einem doch kommen, wenn man sie nicht unter Kontrolle hält.
    Wenn sie die Augen schloss, meinte sie ihn – Wladimir – auf der Bank ihr gegenüber sitzen zu sehen, aber es ist nicht Wladimir, es ist der Arzt von Bornholm, es ist nur ihre Erinnerung an den Arzt von Bornholm, wie er sich, besorgt und eindringlich, auf diese sonderbar unterwürfige Weise in ihr Leben drängt.
     
    Dann kam der Zeitpunkt – bestimmt ging es jetzt auf Mitternacht –, wo sie den Zug endgültig verlassen mussten. Sie hatten die Grenze von Dänemark erreicht. Helsingör. Zumindest die Landesgrenze – sie vermutete, dass die eigentliche Staatsgrenze sich irgendwo draußen im Kattegat befand.
    Und da lag die letzte Fähre,

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