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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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erwartete sie, sah mit ihren vielen hellen Lichtern groß und einladend aus. Und da kam auch schon ein Dienstmann, trug ihr Gepäck an Bord, bedankte sich für ihre dänischen Münzen und eilte davon. An Bord zeigte sie dem Offizier ihre Fahrkarte, und er sprach mit ihr Schwedisch. Er versicherte ihr, dass sie auf der anderen Seite Anschluss an den Zug nach Stockholm haben werde. Sie werde den Rest der Nacht nicht in einem Warteraum verbringen müssen.
    »Ich habe das Gefühl, in die zivilisierte Welt zurückgekehrt zu sein«, sagte sie zu ihm. Er sah sie ein wenig misstrauisch an. Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen, obwohl der Kaffee ihrer Kehle gutgetan hatte. Das liegt daran, dass er Schwede ist, dachte sie. Unter Schweden ist es nicht notwendig, zu lächeln oder anerkennende Bemerkungen zu machen. Der höfliche Umgang kommt auch ohne derlei aus.
    Die Überfahrt war ein wenig rau, aber sie wurde nicht seekrank. Ihr fiel wieder die Tablette ein, aber sie brauchte sie nicht. Und das Schiff musste geheizt sein, denn einige Passagiere hatten die oberste Schicht ihrer Winterkleidung abgelegt. Doch sie zitterte immer noch. Vielleicht war das Zittern notwendig, weil sich auf dem Weg durch Dänemark so viel Kälte in ihrem Körper angesammelt hatte. Sie war in ihr gespeichert, diese Kälte, und jetzt konnte sie sie durch das Zittern hinausbefördern.
     
    Der Zug nach Stockholm wartete wie versprochen in der geschäftigen Hafenstadt Helsingborg, die um so vieles lebhafter und größer war als ihre Cousine ähnlichen Namens auf der anderen Seite des Wassers. Die Schweden mochten nicht lächeln, aber die Auskünfte, die sie einem erteilten, waren korrekt. Ein Dienstmann griff sich ihre Reisetaschen und wartete, während sie in ihrer Börse nach ein paar Münzen suchte. Sie nahm eine großzügige Anzahl heraus und legte sie ihm in die Hand, in der Meinung, sie seien dänisch; sie würde sie nicht mehr brauchen.
    Sie waren dänisch. Er gab sie ihr zurück und sagte auf Schwedisch: »Die nehme ich nicht.«
    »Aber die sind alles, was ich habe«, rief sie, wobei ihr zwei Dinge klarwurden. Ihrem Hals ging es besser, und sie hatte kein schwedisches Geld.
    Er stellte die Taschen hin und ging fort.
    Französisches Geld, deutsches Geld, dänisches Geld. Schwedisches hatte sie vergessen.
    Der Zug stand schon unter Dampf, die Reisenden stiegen ein, während sie ratlos dastand. Sie konnte ihre Taschen nicht tragen. Aber zurücklassen konnte sie sie auch nicht.
    Sie packte die vielen Griffe und fing an zu rennen. Sie taumelte, weil die Taschen gegen ihre Beine schlugen, sie keuchte vor Schmerzen in der Brust und in den Achselhöhlen. Stufen lagen vor ihr. Wenn sie stehen blieb, um Atem zu holen, würde sie zu spät kommen. Sie stieg hinauf. Mit Tränen des Selbstmitleids in den Augen flehte sie den Zug an, sich nicht in Bewegung zu setzen.
    Und er tat es auch nicht. Erst als der Schaffner, der sich hinauslehnte, um die Tür zu schließen, ihren Arm ergriff, sich irgendwie ihre Taschen schnappte und alles zusammen in den Waggon zog.
    Sobald sie gerettet war, fing sie an zu husten. Sie versuchte, etwas aus der Brust herauszuhusten. Den Schmerz in ihrer Brust. Den Schmerz und die Enge in ihrer Kehle. Aber sie musste dem Schaffner zu ihrem Abteil folgen, und zwischen den Hustenanfällen lachte sie triumphierend. Der Schaffner schaute in ein Abteil, in dem schon einige Leute saßen, dann führte er sie zu einem, das leer war.
     
    »Sie haben recht. Mir eins zu geben, wo … ich nicht lästig falle«, sagte sie strahlend. »Ich hatte kein Geld. Schwedisches Geld. Alle anderen Sorten. Nur kein schwedisches. Ich musste rennen. Ich hätte nie gedacht, dass ich …«
    Er sagte ihr, sie solle sich setzen und erst einmal still zu Atem kommen. Er ging fort und kam bald mit einem Glas Wasser wieder. Als sie es trank, fiel ihr die Tablette ein, die sie erhalten hatte, und sie nahm sie mit dem letzten Schluck Wasser. Der Husten legte sich.
    »Sie dürfen das nicht wieder tun«, sagte er. »Ihre Brust wogt. Rauf und runter.«
    Schweden waren sehr freimütig, außerdem reserviert und pünktlich.
    »Warten Sie«, sagte sie.
    Denn es musste noch etwas anderes klargestellt werden, fast als könnte der Zug sie sonst nicht an den richtigen Ort bringen.
    »Warten Sie einen Augenblick. Haben Sie davon gehört? Haben Sie gehört, dass die Pocken ausgebrochen sind? In Kopenhagen?«
    »Nein. Nichts dergleichen«, sagte er. Er nickte ihr ernst, aber höflich

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