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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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haben. Die Behörden wollen nicht, dass die Menschen sich gegen die finnischen Flüchtlinge erheben oder gegen die Regierung, die sie hereingelassen hat.«
    Der Zug hielt, Sofia stand auf und überprüfte ihr Gepäck.
    »Versprechen Sie es mir. Gehen Sie nicht fort, ohne es mir zu versprechen.«
    »Nun gut«, sagte Sofia. »Ich verspreche es.«
    »Sie werden die Fähre nach Gedser nehmen. Ich würde Sie begleiten, um die Fahrkarte zu ändern, aber ich muss weiter nach Rügen.«
    »Ich verspreche es.«
    War es Wladimir, an den er sie erinnerte? Der Wladimir der ersten Zeit. Nicht seine Gesichtszüge, aber seine flehentliche Fürsorge für sie. Seine stete, unterwürfige, hartnäckige und flehentliche Fürsorge.
    Er streckte die Hand aus, und sie reichte ihm die ihre, aber der Händedruck war nicht seine einzige Absicht. Er legte ihr eine kleine Tablette in den Handteller, mit den Worten: »Die wird Ihnen ein wenig Ruhe verschaffen, wenn Sie die Reise zu anstrengend finden.«
    Ich werde mit einem Verantwortlichen über diese Pockenepidemie reden müssen, beschloss sie.
     
    Aber das tat sie nicht. Der Mann, der ihre Fahrkarte änderte, ärgerte sich schon genug darüber, so etwas Schwieriges tun zu müssen, und würde sich noch mehr ärgern, wenn sie danach mit noch anderem kam. Anfangs schien ihm nur Dänisch zu Gebote zu stehen, die Sprache ihrer Mitreisenden, aber als er mit allem fertig war, sagte er zu ihr auf Deutsch, dass die Reise nun wesentlich länger dauern werde, verstehe sie das? Da wurde ihr klar, dass sie immer noch in Deutschland war und er womöglich nichts von Kopenhagen wusste – wo hatte sie nur ihre Gedanken gehabt?
    Er fügte missmutig hinzu, dass es auf den Inseln schneie.
    Die kleine deutsche Fähre nach Gedser war gut geheizt, obwohl man auf Lattenbänken sitzen musste. Sie wollte schon die Tablette einnehmen, denn er konnte solche Sitze gemeint haben, als er von den Anstrengungen der Reise sprach. Doch dann beschloss sie, sie für den Fall von Seekrankheit aufzuheben.
    Der Lokalzug, den sie bestieg, hatte normale, wenn auch harte Zweiter-Klasse-Bänke. Aber es war kalt darin, mit einem qualmenden, fast nutzlosen Ofen am Ende des Waggons.
    Der Schaffner war freundlicher als der Schalterbeamte und nicht so in Eile. Da ihr klar war, dass sie sich auf dänischem Hoheitsgebiet befand, fragte sie ihn auf Schwedisch – das ihrer Einschätzung nach dem Dänischen näher war als das Deutsche –, ob es stimme, dass in Kopenhagen eine Krankheit herrsche. Er antwortete ihr, nein, dieser Zug fahre nicht nach Kopenhagen.
    Sein Schwedisch schien sich auf das Wort »Kopenhagen« zu beschränken.
    In diesem Zug gab es natürlich keine Abteile, nur die zwei Personenwagen mit ihren Holzbänken. Einige der Fahrgäste hatten sich Kissen, Decken und Umhänge mitgebracht, in die sie sich hüllten. Sie würdigten Sofia keines Blickes, geschweige denn, dass sie das Wort an sie richteten. Wozu auch? Sie konnte sie weder verstehen noch ihnen antworten.
    Auch keinen Teewagen. In Ölpapier Eingewickeltes wurde ausgepackt, belegte Brote kamen zum Vorschein. Dicke Brotscheiben, streng riechender Käse, gekochter Schinken, irgendwo ein Hering. Eine Frau zog eine Gabel aus einer Tasche in den Tiefen ihrer Kleidung und aß Sauerkraut aus einem Einmachglas. Sofia musste an zu Hause denken, an Russland.
    Aber dies hier sind keine russischen Bauern. Niemand von ihnen ist betrunken oder streitsüchtig oder lustig. Sie sind starr wie Bretter. Sogar das Fett, das einige von ihnen auf den Knochen tragen, ist starres Fett, gediegenes protestantisches Fett. Sie weiß nichts von ihnen.
    Aber was weiß sie schon von russischen Bauern, von den Bauern in Palibino, strenggenommen? Sie verstellten sich ja immer vor den Herrschaften.
    Außer vielleicht das eine Mal, an dem Sonntag, als alle Leibeigenen und ihre Besitzer sich in der Kirche einfinden mussten, um die Verlesung des Dekrets zu hören. Hinterher war Sofias Mutter völlig verstört, weinte und jammerte: »Was soll jetzt aus uns werden? Was soll aus meinen armen Kindern werden?« Der General führte sie in sein Arbeitszimmer, um sie zu trösten. Anjuta setzte sich hin, um eins ihrer Bücher zu lesen, und Fjodor, der kleine Bruder, spielte mit seinen Bauklötzchen. Sofia spazierte umher und gelangte in die Küche, wo das Hausgesinde und sogar viele Leibeigene, die auf den Feldern arbeiteten, Pfannkuchen aßen und feierten – aber in sehr würdevoller Weise, als begingen sie

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