Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Unterschied, so kam es dem Kind vor, war, dass die Mutter nach Holz roch, während die Lehrerin nach Holz in Musik roch.
Die Kleine war nicht sehr begabt, übte aber emsig. Sie tat das nicht, weil sie die Musik liebte. Sie tat das einzig und allein aus Liebe zu der Lehrerin.
Joyce legt das Buch auf den Küchentisch und betrachtet wieder das Foto der Verfasserin. Gibt es irgendetwas von Edie in diesem Gesicht? Nichts. Weder in der Form noch dem Ausdruck.
Sie steht auf und holt den Cognac, gießt sich ein wenig davon in den Tee. Sie durchforscht ihr Gedächtnis nach dem Namen von Edies Tochter. Bestimmt nicht Christie. Sie kann sich nicht daran erinnern, ob Edie sie je mit ins Haus brachte. In der Schule gab es damals mehrere Mädchen, die Geigenunterricht nahmen.
Die Kleine konnte nicht völlig untalentiert gewesen sein, sonst hätte Joyce sie zu etwas weniger Schwierigem als der Geige gelenkt. Aber sie konnte auch nicht sehr begabt gewesen sein – das hatte sie ja selbst geschrieben –, sonst wäre ihr Name Joyce in Erinnerung geblieben.
Ein leeres Gesicht. Ein Klecks weiblicher Kindlichkeit. Obwohl da etwas gewesen war, das Joyce bekannt vorkam, in dem Gesicht der erwachsenen jungen Frau.
Konnte es nicht sein, dass sie ins Haus gekommen war, wenn Edie Jon an einem Samstag half? Oder sogar an den Tagen, wo Edie einfach als eine Art von Besucherin auftauchte, nicht um zu arbeiten, sondern nur, um zu sehen, wie die Arbeit voranging, und notfalls mit anzupacken. Sich in einen Sessel haute, bei allem, was Jon gerade tat, zuschaute und jedem Gespräch im Weg war, das Joyce mit ihm an ihrem kostbaren freien Tag hätte führen können.
Christine. Natürlich. So hieß sie. Kein weiter Weg bis zu Christie.
Christine musste etwas von der beginnenden Affäre mitbekommen haben, Jon musste in der Wohnung vorbeigeschaut haben, ebenso wie Edie im Haus vorbeigeschaut hatte. Es konnte doch sein, dass Edie dem Kind auf den Zahn gefühlt hatte.
Magst du Jon?
Magst du Jons Haus?
Wäre es nicht schön, in Jons Haus zu wohnen?
Mammi und Jon mögen sich sehr, und wenn zwei Menschen sich sehr mögen, dann wollen sie im selben Haus wohnen. Deine Musiklehrerin und Jon mögen sich längst nicht so sehr, wie Mammi und Jon sich mögen, und Mammi und Jon werden in seinem Haus zusammenleben, und deine Musiklehrerin wird in eine Wohnung umziehen.
Alles Quatsch, solches Geschwafel hätte Edie nie abgesondert, das musste man ihr lassen.
Joyce meint zu wissen, welche Wendung die Geschichte nehmen wird. Das Kind hin- und hergerissen, gefangen in einem Strudel aus den Machenschaften der Erwachsenen. Aber als sie wieder in das Buch schaut, stellt sie fest, dass der Wohnortwechsel kaum erwähnt wird.
Alles dreht sich um die Liebe des Kindes zu der Lehrerin.
Donnerstag, der Tag des Musikunterrichts, ist der entscheidende Tag der Woche, Glück oder Unglück hängen davon ab, ob das Kind gut oder schlecht vorspielt und wie die Lehrerin das jeweils aufnimmt. Beides ist nahezu unerträglich. Die Lehrerin kann mit beherrschter Freundlichkeit sprechen und Scherze machen, um ihren Missmut und ihre Enttäuschung zu verbergen. Das Kind ist zu Tode betrübt. Oder die Lehrerin ist plötzlich heiter und fröhlich.
»Prima. Ganz prima. Heute hast du’s wirklich gepackt.« Und das Kind ist so glücklich, dass es Magenkrämpfe bekommt.
Dann kommt der Donnerstag, an dem das Kind auf dem Schulhof hingefallen ist und sich das Knie aufgeschürft hat. Die Lehrerin, die die Wunde mit einem warmen nassen Lappen reinigt, mit plötzlich weicher Stimme erklärt, das verdiene eine Belohnung, und nach der Dose mit Smarties greift, die sie benutzt, um die kleinsten Kinder zu ermuntern.
»Welches magst du am liebsten?«
Das Kind, das überwältigt zur Antwort gibt: »Jedes.«
Ist das der Beginn einer Veränderung? Ist das wegen des Frühlings, wegen der Vorbereitungen für das Konzert?
Die Kleine fühlt sich auserwählt. Sie soll ein Solo spielen. Das bedeutet, dass sie donnerstags nach dem Unterricht länger bleiben muss, um zu üben, und so versäumt sie den Schulbus, der aus der Stadt hinausfährt, zu dem Haus, in dem sie und ihre Mutter jetzt wohnen. Die Lehrerin wird sie heimfahren. Unterwegs stellt sie ihr die Frage, ob sie wegen des Konzerts aufgeregt sei.
Doch, schon.
In dem Fall, sagt die Lehrerin, muss sie sich beibringen, an etwas ganz Schönes zu denken. Zum Beispiel an einen Vogel, der über den Himmel fliegt. Welchen Vogel mag sie am
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