Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
haben.
    Trotzdem nimmt sie am Abend das Buch mit zu Bett und schlägt pflichtbewusst das Inhaltsverzeichnis auf. Etwa nach der Hälfte der Liste springt ihr ein Titel ins Auge.
    »Kindertotenlieder«.
    Mahler. Vertrautes Gebiet. Beruhigt schlägt sie die angegebene Seite auf.
    Neben ihr schnauft Matt verächtlich.
    Sie weiß, dass ihm etwas in seiner Lektüre nicht passt und sie ihn danach fragen soll. Also tut sie es.
    »Verdammt. So ein Idiot.«
    Sie legt
Wie sollen wir leben
aufgeschlagen auf ihre Brust und macht Geräusche, um anzudeuten, dass sie ihm zuhört.
    Hinten auf dem Schutzumschlag des Buches ist wieder ein Foto der Verfasserin, diesmal ohne Hut. Immer noch ohne den Hauch eines Lächelns und schmollend, aber ein bisschen weniger anmaßend. Während Matt redet, zieht Joyce die Knie an, so dass sie das Buch dagegen lehnen und die Kurzbiographie auf dem Umschlag lesen kann.
    Christie O’Dell wuchs in Rough River auf, einer Kleinstadt an der Küste von British Columbia. Sie studierte Kreatives Schreiben an der ubc. Sie lebt in Vancouver mit ihrem Mann Justin und ihrem Kater Tiberius.
    Als Matt ihr erklärt hat, was es mit der Idiotie in seinem Buch auf sich hat, schaut er von seinem auf, um einen Blick auf ihres zu werfen, und sagt: »Das ist doch das Mädchen, das auf unserer Party war.«
    »Ja. Sie heißt Christie O’Dell. Sie ist Justins Frau.«
    »Sie hat also ein Buch geschrieben? Worüber?«
    »Es sind Erzählungen.«
    »Ach so.«
    Er hat sich wieder seiner Lektüre zugewandt, fragt sie aber wenig später, mit einem Hauch von Zerknirschung: »Taugt es was?«
    »Weiß ich noch nicht.«
    »Sie lebte bei ihrer Mutter«, liest sie, »in einem Haus zwischen den Bergen und dem Meer …«
    Nach diesen Worten fühlt sich Joyce zu ungemütlich, um weiterzulesen. Oder mit ihrem Mann neben ihr weiterzulesen. Sie schlägt das Buch zu und sagt: »Ich glaube, ich gehe mal kurz runter.«
    »Stört dich das Licht? Ich mach es gleich aus.«
    »Nein. Ich glaube, ich möchte eine Tasse Tee. Also bis gleich.«
    »Wahrscheinlich schlafe ich dann schon.«
    »Dann gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Sie gibt ihm einen Kuss und nimmt das Buch mit.
     
    Sie lebte bei ihrer Mutter in einem Haus zwischen den Bergen und dem Meer. Davor hatte sie bei Mrs Noland gelebt, die Pflegekinder aufnahm. Die Anzahl der Kinder in Mrs Nolands Haus änderte sich von Zeit zu Zeit, aber es waren immer zu viele. Die Kleinen schliefen in einem Bett in der Mitte des Zimmers, und die Größeren schliefen auf Pritschen zu beiden Seiten des Betts, damit die Kleinen nicht hinunterrollten. Eine Glocke läutete morgens zum Aufstehen. Mrs Noland stand in der Tür und läutete die Glocke. Beim nächsten Glockenläuten musste man auf dem Klo gewesen sein und sich gewaschen und angezogen haben, fertig fürs Frühstück. Die Großen sollten den Kleinen beim Bettenmachen helfen. Manchmal hatten die Kleinen in der Mitte ins Bett genässt, weil es ihnen schwerfiel, schnell genug über die Großen hinwegzukrabbeln. Einige von den Großen verpetzten sie, aber andere waren netter und zogen einfach die Decke zurück, um alles trocknen zu lassen, und wenn man abends ins Bett ging, war es manchmal noch nicht ganz trocken. Das war fast alles, was sie noch von Mrs Noland wusste.
    Dann lebte sie bei ihrer Mutter, die sie jeden Abend zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker mitnahm. Sie musste sie mitnehmen, denn es war niemand da, der auf sie aufpassen konnte. Bei den Anonymen Alkoholikern gab es eine Lego-Kiste zum Spielen, aber sie mochte Lego nicht besonders. Nachdem sie in der Schule begonnen hatte, Geige spielen zu lernen, nahm sie ihre Kindergeige mit zu den Anonymen Alkoholikern. Sie konnte dort nicht darauf spielen, aber sie musste ständig auf sie aufpassen, da sie der Schule gehörte. Wenn die Leute sehr laut redeten, konnte sie ganz leise ein wenig üben.
    Der Geigenunterricht fand in der Schule statt. Wenn man kein Instrument spielen wollte, konnte man einfach Triangel spielen, aber der Lehrerin war es lieber, wenn man etwas Schwereres spielte. Die Lehrerin war eine große Frau mit braunen Haaren, die sie meistens in einem langen Zopf auf dem Rücken trug. Sie roch anders als die übrigen Lehrerinnen. Manche benutzten Parfüm, aber sie nie. Sie roch nach Holz oder einem Ofen oder Bäumen. Später glaubte das Kind, es sei der Geruch von Zedernspänen. Als dann die Mutter des Kindes bei dem Mann der Lehrerin arbeitete, roch sie auch so, aber nicht ganz. Der

Weitere Kostenlose Bücher