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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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muss weiterlesen. Sie würde sich gerne noch Cognac einschenken, aber sie hat am nächsten Morgen um neun Uhr Probe.
     
    Nichts dergleichen. Sie hat wieder einen Fehler gemacht. Der Wald und die Schokoladenlilien verschwinden aus der Geschichte, das Konzert wird nahezu übergangen. Das Schuljahr ist gerade zu Ende. Und an dem Sonntagmorgen nach der letzten Woche wird das Kind früh geweckt. Es hört die Stimme der Lehrerin und geht ans Fenster. Da ist die Lehrerin in ihrem Auto, sie hat das Fenster heruntergelassen und redet mit Jon. Am Auto ist ein kleiner Anhänger. Jon ist barfüßig, mit nacktem Oberkörper, er hat nur Jeans an. Er ruft die Mutter des Kindes, sie kommt aus der Küchentür und geht ein paar Schritte auf den Hof, aber nicht bis zum Auto. Sie hat eins von Jons Hemden an, das sie als Morgenmantel benutzt. Sie trägt immer lange Ärmel, um ihre Tätowierungen zu verbergen.
    Das Gespräch dreht sich um etwas in der Wohnung, das Jon abzuholen verspricht. Die Lehrerin wirft ihm die Schlüssel zu. Dann reden Jon und die Mutter des Kindes gleichzeitig auf sie ein und drängen sie, noch andere Dinge mitzunehmen. Aber die Lehrerin lacht höhnisch und sagt: »Gehört alles euch.« Darauf sagt Jon: »Schön. Bis bald«, und die Lehrerin erwidert: »Bis bald«, und was die Mutter des Kindes sagt, kann man nicht hören. Die Lehrerin lacht wieder höhnisch, und Jon gibt ihr Anweisungen, wie sie mit dem Anhänger auf dem Hof wenden soll. Inzwischen ist die Kleine im Schlafanzug die Treppe hinuntergelaufen, obwohl sie weiß, dass die Lehrerin nicht in der richtigen Stimmung ist, um mit ihr zu reden.
    »Du hast sie gerade verpasst«, sagt die Mutter des Kindes. »Sie musste die Fähre erreichen.«
    Das Auto hupt, Jon hebt die Hand. Dann kommt er über den Hof und sagt zu der Mutter des Kindes: »Das war’s.«
    Das Kind fragt, ob die Lehrerin wiederkommen wird, und er sagt: »Unwahrscheinlich.«
    Auf der nächsten halben Seite versteht die Kleine allmählich, was vorgegangen ist. Nach und nach erinnert sie sich an bestimmte Fragen, an das scheinbar planlose Aushorchen. Nach eigentlich ganz sinnlosen Informationen über Jon (den sie nicht Jon nennt) und ihre Mutter. Wann standen sie morgens auf? Was aßen sie gerne, und kochten sie zusammen? Was hörten sie sich im Radio an? (Gar nichts – sie hatten sich einen Fernseher gekauft.)
    Worauf war die Lehrerin aus? Hoffte sie, Schlechtes zu hören? Oder war sie nur gierig darauf, irgendetwas zu hören, mit jemand in Verbindung zu stehen, der unter demselben Dach schlief, am selben Tisch aß und mit den beiden täglich zusammen war?
    Das wird dem kleinen Mädchen niemals klar. Aber ihr wird irgendwann klar, wie wenig es auf sie ankam, wie ihre Schwärmerei missbraucht wurde, was für ein dummes kleines Ding sie war. Und das erfüllt sie mit Bitterkeit, oh ja. Mit Bitterkeit und Stolz. Sie hält sich für jemanden, der sich nie wieder hinters Licht führen lassen wird.
    Aber dann geschieht etwas. Und alles geht ganz anders aus. Ihre Gefühle für die Lehrerin und für diese Zeit ihrer Kindheit verändern sich eines Tages. Sie weiß nicht, wie oder wann, aber ihr wird klar, dass sie diese Zeit nicht mehr für einen Betrug hält. Sie muss an die Musik denken, die sie so mühsam zu spielen lernte (sie gab sie natürlich noch vor ihrem zehnten Geburtstag wieder auf). An den Aufschwung ihrer Hoffnungen, die Phasen der Glückseligkeit, die seltsamen und entzückenden Namen der Waldblumen, die sie nie zu sehen bekam.
    Liebe. Sie war froh darüber. Es schien fast, als müsse es eine wahllose und natürlich ungerechte Sparsamkeit in der Haushaltsführung der Welt geben, wenn das große Glück eines Menschen – wie vergänglich und zerbrechlich auch immer – aus dem großen Unglück eines anderen kommen konnte.
    Doch, ja, denkt Joyce. Ja.
     
    Am Freitagnachmittag geht sie in die Buchhandlung. Sie bringt ihr Buch zum Signieren mit, auch eine kleine Schachtel von Le Bon Chocolatier. Sie muss Schlange stehen. Es überrascht sie ein wenig, dass so viele gekommen sind. Frauen in ihrem Alter, auch ältere und jüngere. Ein paar Männer, die alle jünger sind, einige begleiten ihre Freundinnen.
    Die Frau, die Joyce das Buch verkauft hat, erkennt sie wieder.
    »Schön, Sie wiederzusehen«, sagt sie. »Haben Sie die Besprechung im
Globe
gelesen? Wow.«
    Joyce ist verwirrt, zittert sogar ein bisschen. Das Sprechen fällt ihr schwer.
    Die Frau geht an der Schlange entlang und erklärt,

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