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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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liebsten?
    Wieder, was sie am liebsten mag. Sie kann nicht denken, ihr fällt kein einziger Vogel ein. Dann: »Eine Krähe?«
    Die Lehrerin lacht. »Von mir aus. Denk an eine Krähe. Unmittelbar, bevor du zu spielen anfängst, denk an eine Krähe.«
    Dann, vielleicht, weil die Lehrerin spürt, wie gedemütigt das Kind ist, und ihr Gelächter wiedergutmachen will, schlägt sie vor, dass sie zum Willingdon Park hinunterfahren und nachschauen, ob die Eisdiele schon für den Sommer aufgemacht hat.
    »Machen sie sich Sorgen, wenn du nicht gleich nach Hause kommst?«
    »Sie wissen, dass ich bei Ihnen bin.«
    Die Eisdiele hat auf, auch wenn die Auswahl begrenzt ist. Die exotischeren Sorten gibt es noch nicht. Das Kind wählt Erdbeer, um diesmal vorbereitet zu sein, inmitten seiner Seligkeit und Aufgeregtheit. Die Lehrerin wählt Vanille, wie viele Erwachsene. Obwohl sie mit dem Verkäufer scherzt und ihm sagt, er solle ganz schnell Rum-Traube besorgen, sonst sei sie ihm nicht mehr grün.
    Vielleicht findet in diesem Augenblick eine weitere Veränderung statt. Die Lehrerin so sprechen zu hören, fast so kess wie die größeren Mädchen, nimmt der Kleinen die Befangenheit. Von da an ist sie weniger starr vor Anbetung und trotzdem vollkommen glücklich. Sie fahren hinunter zum Pier, um die vertäuten Boote zu betrachten, und die Lehrerin sagt, sie habe schon immer auf einem Hausboot wohnen wollen. Wäre das nicht lustig, sagt sie, und das Kind stimmt natürlich zu. Sie suchen sich dasjenige aus, das sie nehmen würden. Es ist selbstgebaut und hellblau angestrichen, mit einer Reihe kleiner Fenster, in denen Geranientöpfe stehen.
    Das führt zu einem Gespräch über das Haus, in dem das Kind jetzt wohnt, das Haus, in dem die Lehrerin früher wohnte. Und irgendwie kommen sie danach auf ihren Fahrten oft wieder auf dieses Thema zu sprechen. Die Kleine berichtet, dass es ihr gefällt, ein eigenes Zimmer zu haben, aber nicht, wie dunkel es draußen ist. Manchmal ist ihr, als höre sie draußen vor dem Fenster wilde Tiere.
    Was für wilde Tiere?
    Bären. Pumas. Ihre Mutter sagt, die sind im Wald, sie soll da nie reingehen.
    »Stehst du manchmal auf und kriechst zu deiner Mutter ins Bett, wenn du sie hörst?«
    »Das darf ich nicht.«
    »Du meine Güte, warum denn nicht?«
    »Jon ist da.«
    »Was meint Jon zu den Bären und den Pumas?«
    »Er meint, das sind nur Rehe.«
    »War er wütend auf deine Mutter, weil sie dir das erzählt hat?«
    »Nein.«
    »Er wird wohl nie wütend.«
    »Doch, einmal schon. Als meine Mutter und ich seinen ganzen Wein in den Ausguss geschüttet haben.«
    Die Lehrerin sagt, wie schade es ist, wenn man immer vor dem Wald Angst hat. Es gibt schöne Wanderwege darin, sagt sie, wo wilde Tiere einen nicht behelligen, schon gar nicht, wenn man Geräusche macht, wie man es meistens tut. Sie kennt die sicheren Wege, und sie kennt die Namen all der Waldblumen, die jetzt bald blühen werden. Hundszahnveilchen. Dreiblatt. Zeichenwurz. Echte Veilchen und Akelei. Schokoladenlilien.
    »Ich glaube, ihr richtiger Name ist anders, aber ich nenne sie gern Schokoladenlilien. Das klingt so köstlich. Natürlich hat es nichts damit zu tun, wie sie schmecken, sondern damit, wie sie aussehen. Sie sehen genau wie Schokolade aus, mit violetten Tupfen wie von Brombeeren. Sie sind selten, aber ich weiß, wo welche stehen.«
     
    Joyce legt das Buch wieder hin. Jetzt weiß sie endlich, worauf es hinausläuft, spürt das Entsetzliche schon kommen. Das unschuldige Kind, die kranke, hinterlistige Erwachsene, die widerwärtige Verführung. Sie hätte es wissen müssen. Alles heutzutage so angesagt, praktisch ein Muss. Der Wald, die Frühlingsblumen. Hier nun würde die Autorin ihre schmutzige Phantasie den Menschen und der Situation aufpfropfen, die sie aus dem wahren Leben genommen hat, zu faul, um zu erfinden, aber nicht zu faul, um zu verleumden.
    Denn einiges davon stimmte natürlich. Sie erinnert sich an Dinge, die ihr entfallen waren. Wie sie Christine nach Hause fuhr und von ihr nie als Christine dachte, sondern immer als Edies Kind. Sie erinnert sich, dass sie nicht auf den Hof fahren konnte, um zu wenden, sondern das Kind immer am Straßenrand aussteigen ließ und dann etwa eine halbe Meile weiterfuhr zu einer Stelle, an der sie wenden konnte. An das Eis erinnert sie sich nicht. Aber genau so ein Hausboot lag früher am Pier. Sogar die Blumen und das verschlagene, entsetzliche Ausfragen des Kindes – das konnte stimmen.
    Sie

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