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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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oder Tennyson erinnert zu werden. Und nach ein paar Schritten stürmten die Zeilen auf mich ein.
    Der Grat von Wenlock ist bedroht …
    Ich würde nie wieder an diese Zeilen denken können, ohne den kitzelnden Bezug unter meinem nackten Gesäß zu spüren. Die eklige, kitzlige Schande. Eine Schande, die mir jetzt viel größer vorkam als in jenen Augenblicken. Er hatte mir also doch etwas angetan.
    Von fern, von Nacht und Morgen,
    Vom Himmel schwarz und schwer
    Blies Wind den Stoff des Lebens,
    Aus dem ich bin – hierher.
    Nein.
    Sind dies die Hügel, die Gehöfte,
    Wie schon der Bub sie sah?
    Nein, niemals.
    Weiß liegt im Mond der lange Weg,
    Der von der Liebsten führt.
    Nein. Nein. Nein.
    Ich würde immer daran erinnert werden, in was ich eingewilligt hatte. Ohne Zwang, ohne Notwendigkeit, ja sogar ohne Überredung. Freiwillig.
    Nina würde es wissen. Sie war an jenem Morgen zu sehr mit Ernie beschäftigt gewesen, um etwas zu sagen, aber es würde eine Zeit kommen, da würde sie darüber lachen. Nicht grausam, nur so, wie sie über vieles lachte. Und es konnte sogar sein, dass sie mich damit neckte. Ihre Neckerei würde etwas an sich haben, was auch ihre Kitzelei hatte, etwas Aufdringliches, Obszönes.
    Nina und Ernie. Von jetzt an in meinem Leben.
     
    Die College-Bibliothek war ein hoher, schöner Raum, geplant, erbaut und bezahlt von Menschen, die glaubten, dass jene, die an langen Tischen vor aufgeschlagenen Büchern saßen – sogar jene, die verkatert, verschlafen, widerwillig oder unverständig waren –, viel Raum um sich haben sollten, Täfelungen aus dunklem, glänzendem Holz und hohe Fenster, die von lateinischen Ermahnungen umrahmt waren und den Blick auf den Himmel freigaben. Ein paar Jahre lang, bevor sie Lehrer oder Geschäftsleute wurden oder Kinder großzogen, sollten sie das haben. Und jetzt war ich an der Reihe und sollte das auch haben.
    Sir Gawain und der grüne Ritter
.
    Ich schrieb einen guten Essay. Ich würde wahrscheinlich eine Eins bekommen. Ich würde weiterhin Essays schreiben und Einsen bekommen, weil ich das konnte. Die Menschen, die Stipendien vergaben, die Universitäten und Bibliotheken bauten, würden weiterhin Geld spenden, damit ich das tun konnte.
    Aber darauf kam es nicht an. Das konnte einen nicht davor bewahren, Schaden zu nehmen.
     
    Nina blieb nicht mal eine Woche lang bei Ernie. Sehr bald kam Ernie eines Abends nach Hause und stellte fest, dass sie fort war. Fort ihr Mantel und ihre Schuhe, ihre schönen Sachen und der Kimono, den ich ihr gebracht hatte. Fort ihr nussbraunes Haar, ihre Kitzelei, die besondere Wärme ihrer Haut und das leise Stöhnen, wenn sie sich bewegte. Alles fort ohne eine Erklärung, ohne ein Wort auf Papier. Ohne ein Wort.
    Ernie war jedoch nicht der Mann, der sich einschloss und trauerte. Was er auch sagte, als er anrief, um mir die Neuigkeit mitzuteilen und nachzuhören, ob ich am Sonntagabend Zeit fürs Abendessen hätte. Wir stiegen die Treppe zum Old Chelsea hoch, und er bemerkte, dass dies unser letztes Abendessen vor den Weihnachtsferien sei. Er half mir aus dem Mantel, und ich roch Ninas Geruch. Konnte der immer noch an seiner Haut sein?
    Nein. Die Quelle fand sich, als er mir etwas übergab. Etwas wie ein großes Taschentuch.
    »Steck das einfach in die Manteltasche«, sagte er.
    Kein Taschentuch. Der Stoff war dicker und ein bisschen gerippt. Ein Unterhemd.
    »Ich will’s nicht im Haus haben«, sagte er, und seine Stimme hätte einen auf den Gedanken bringen können, dass er nur solch ein Wäschestück nicht im Haus haben wollte, unabhängig davon, dass es Nina gehörte und nach Nina roch.
    Er bestellte das Roastbeef, zerschnitt und verzehrte es säuberlich wie immer und mit höflichem Appetit. Ich lieferte ihm die Neuigkeiten von zu Hause, die wie zu dieser Jahreszeit üblich aus der Höhe von Schneewehen, der Zahl der unpassierbaren Straßen und dem Winterchaos bestanden, das unsere Gegend auszeichnete.
    Nach einiger Zeit sagte Ernie: »Ich bin zu seinem Haus gegangen. Es war niemand da.«
    Zu wessen Haus?
    Dem von ihrem Onkel, sagte er. Er wusste, welches Haus es war, denn er war mit Nina nach Einbruch der Dunkelheit daran vorbeigefahren. Jetzt war niemand mehr da, sagte er, alle waren abgereist. Sie hatte sich eben umentschieden.
    »Das Vorrecht einer Frau«, sagte er. »Es heißt doch, es ist das Vorrecht einer Frau, ihre Meinung zu ändern.«
    Seine Augen, jetzt, wo ich hineinsah, hatten einen dürren, verhungerten Ausdruck,

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