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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Sie stieg die Treppe hoch, trat ins Sonnenlicht hinaus und blieb stehen, wobei alle möglichen Leute an ihr vorbeieilten und vorbeidrängten. Sie war enttäuscht und verlegen. Enttäuscht, weil Kent offenbar nicht da war, und verlegen, weil sie empfand, was Leute aus ihrem Teil des Landes oft empfanden, auch wenn sie nie sagen würde, was die sagten. Man könnte meinen, man ist im Kongo oder in Indien oder Vietnam, sagten die. Überall, nur nicht in Ontario. Turbane und Saris und Daschikis, wohin man sah, und Sally fand Gefallen am schwungvollen Rascheln der Gewänder und den leuchtenden Farben. Aber sie wurden nicht als exotische Kostüme getragen. Und die Träger waren nicht gerade erst hier eingetroffen; sie hatten sich eingelebt. Sally war ihnen im Weg.
    Auf der Treppe eines alten Bankgebäudes gleich gegenüber dem U-Bahnhof trieben sich mehrere Männer herum, hockten da oder schliefen. Das war natürlich keine Bank mehr, obwohl ihr Name noch in den Stein gemeißelt war. Sally achtete mehr auf den Namen als auf die Männer, die da herumlungerten und in solchem Gegensatz zu dem ursprünglichen Zweck des Gebäudes standen, auch zu der Eile der Passanten, die aus der U-Bahn strömten.
    »Mom.«
    Einer der Männer auf den Stufen kam ohne Eile auf sie zu, wobei er ein Bein etwas nachzog, und ihr wurde klar, dass es Kent war, und sie wartete auf ihn.
    Eigentlich wäre sie am liebsten weggelaufen. Aber dann sah sie, dass nicht alle Männer auf den Stufen schmutzig oder hoffnungslos aussahen und dass einige von ihnen sie ohne Drohung oder Verachtung ansahen und sogar mit Freundlichkeit, nun, wo sie wussten, dass sie Kents Mutter war.
    Kent trug keine Ordenstracht. Er hatte eine graue Hose an, die ihm zu groß war und von einem Gürtel gehalten wurde, dazu ein unbeschriftetes T-Shirt und ein sehr abgetragenes Jackett. Seine Haare waren so kurz geschnitten, dass man kaum die Krause sah. Er war völlig ergraut, einige Zähne fehlten, sein Gesicht zerfurcht, der Körper hager, wodurch er älter aussah, als er war.
    Er umarmte sie nicht – was sie auch nicht erwartete –, legte ihr aber leicht die Hand auf den Rücken, um sie in die Richtung zu lenken, in die er mit ihr gehen wollte.
    »Rauchst du immer noch Pfeife?«, fragte sie schnuppernd und erinnerte sich daran, dass er sich in der Highschool das Pfeiferauchen angewöhnt hatte.
    »Pfeife? Ach so. Nein. Das ist der Rauch von der Feuersbrunst, den du riechst. Wir merken ihn gar nicht mehr. Ich fürchte, er wird da, wo wir hingehen, noch stärker werden.«
    »Werden wir da durchgehen, wo es war?«
    »Nein, nein. Können wir gar nicht, selbst wenn wir wollten. Alles abgesperrt. Zu gefährlich. Einige Häuser müssen abgerissen werden. Keine Sorge, wo wir sind, ist es sicher. Anderthalb Querstraßen weit weg vom Brand.«
    »Das Haus, in dem du wohnst?«, fragte sie und hatte das »wir« sehr wohl gehört.
    »So in etwa. Ja. Du wirst schon sehen.«
    Er sprach sanft, bereitwillig, doch etwas angestrengt, wie jemand, der aus Höflichkeit in einer Fremdsprache redet. Und er beugte sich ein wenig vor, damit sie ihn hörte. Ihr kam es so vor, als solle sie das bemerken, die besondere Mühe, die leichte Anstrengung, die das Gespräch für ihn mit sich brachte, als übersetze er sorgfältig.
    Die Kosten.
    Als sie von einem Bordstein auf die Straße traten, streifte er ihren Arm – vielleicht war er gestolpert – und sagte: »Entschuldige.« Und sie meinte, dass ihn ein leichter Schauder überlief.
    AIDS . Warum war ihr das nie eingefallen?
    »Nein«, sagte er, obwohl sie bestimmt nicht laut gedacht hatte. »Es geht mir zur Zeit recht gut. Ich bin nicht HIV -positiv oder so etwas. Ich habe mir vor Jahren Malaria geholt, aber die ist unter Kontrolle. Ich mag gegenwärtig etwas abgespannt sein, aber das ist kein Grund zur Sorge. Wir gehen hier entlang. Wir sind gleich da.«
    Wieder das »wir«.
    »Ich bin nicht medial veranlagt«, sagte er. »Mir ist nur klargeworden, was Savanna herauskriegen wollte, und da dachte ich mir, ich beruhige dich. So, da sind wir.«
    Es war eins von den Häusern, deren Haustür nur wenige Schritte vom Bürgersteig entfernt ist.
    »Ich bin übrigens Zölibatär«, sagte er und hielt ihr die Tür auf.
    Ein Stück Pappe klebte dort, wo eine der Glasscheiben fehlte.
    Die Dielen waren kahl und knarrten. Der Geruch setzte sich aus allem Möglichen zusammen und war durchdringend. Der Rauchgeruch war natürlich von der Straße hereingedrungen, aber er

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