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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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habe ich mit dir zu schaffen?‹«
    Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig, wurde grimmig.
    »Wirst du es nicht müde, Sally? Wirst du es nicht müde, schlau zu sein? Ich kann so nicht weiterreden, tut mir leid. Ich habe noch zu tun.«
    »Ich auch«, sagte Sally. Was gelogen war. »Wir werden …«
    »Sag’s nicht. Sag nicht: Wir werden in Verbindung bleiben.«
    »Vielleicht werden wir in Verbindung bleiben. Klingt das besser?«
     
    Sally verläuft sich, doch dann findet sie sich zurecht. Da wieder das Bankgebäude, dieselben Stadtstreicher oder vielleicht ein ganz neues Regiment von ihnen. Die Fahrt in der U-Bahn, der Parkplatz, die Schlüssel, die Bundesstraße, der Verkehr. Dann die Landstraße, der frühe Sonnenuntergang, noch kein Schnee, die kahlen Bäume und die dunkelnden Felder.
    Sie liebt diese Landschaft, diese Jahreszeit. Muss sie sich jetzt für unwürdig halten?
    Die Katze freut sich, sie zu sehen. Auf ihrem Anrufbeantworter sind mehrere Nachrichten von Freunden. Sie macht sich ihre abgepackte Portion Lasagne warm. Sie kauft sich jetzt diese vorgekochten und tiefgekühlten Einzelportionen. Sie schmecken recht gut und sind nicht zu teuer, wenn man bedenkt, dass man keinen Abfall hat. Sie nippt während der siebenminütigen Wartezeit an einem Glas Wein.
    Jonah.
    Sie zittert vor Wut. Was soll sie jetzt tun, in das Abbruchhaus zurückkehren und das verrottete Linoleum schrubben und die Hähnchenteile zubereiten, die wegen des überschrittenen Verfallsdatums weggeworfen wurden? Täglich daran erinnert werden, wie wenig sie mit Marnie oder anderen menschlichen Wracks mithalten kann? Und alles nur, um sich nützlich zu machen in einem Leben, das jemand anders – Kent – sich ausgesucht hat.
    Er ist krank. Er verschleißt sich, vielleicht geht er in seinen Tod. Er würde ihr saubere Wäsche und frische Nahrungsmittel nicht danken. Oh, nein. Er würde lieber auf dieser Pritsche unter der Decke mit dem Brandloch sterben.
    Aber ein Scheck, sie kann einen Scheck ausstellen, keinen absurden. Weder zu groß noch zu klein. Er wird sich natürlich nicht selbst daran bereichern. Er wird auch nicht aufhören, sie zu verachten.
    Verachtung. Nein. Darum geht es nicht. Nichts Persönliches.
     
    Aber es ist doch schon etwas, den Tag überstanden zu haben, ohne dass er zur absoluten Katastrophe geriet. Und die Katastrophe war doch nicht eingetreten? Sie hatte »vielleicht« gesagt. Er hatte sie nicht verbessert.

Freie Radikale
    Anfangs riefen alle an, um sich zu vergewissern, dass Nita nicht zu niedergeschlagen oder zu einsam war, nicht zu wenig aß oder zu viel trank. (Viele kannten sie als emsige Weintrinkerin und vergaßen, dass sie inzwischen überhaupt nichts mehr trinken durfte.) Sie wehrte alle ab, ohne so zu klingen, als sei sie die hehre Trauernde oder übertrieben fröhlich oder geistesabwesend oder gar verwirrt. Sie sagte, Lebensmittel brauche sie nicht, sie arbeite sich durch ihre Vorräte. Habe genug verschriebene Tabletten und genug Briefmarken für die Danksagungen.
    Ihre engeren Freunde ahnten wahrscheinlich die Wahrheit – dass sie kaum etwas aß und jeden Kondolenzbrief, den sie bekam, ungelesen wegwarf. Sie hatte die entfernteren Bekannten nicht einmal benachrichtigt, um ja nicht solche Briefe zu erhalten. Nicht einmal Richs erste Frau in Arizona oder seinen Bruder in Nova Scotia, mit dem er schon lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte, obwohl diese beiden vielleicht besser als ihre näheren Bekannten verstanden hätten, warum sie diese Nicht-Beerdigung vorgenommen hatte.
    Rich hatte ihr zugerufen, dass er ins Dorf wolle, in den Laden mit den Haushaltswaren. Es war gegen zehn Uhr morgens – er hatte angefangen, das Geländer der Dachterrasse neu zu streichen. Das heißt, er kratzte es ab für die neue Farbe, und der alte Spachtel fiel ihm auseinander.
    Sie hatte keine Zeit gehabt, um sich über seine Verspätung zu wundern. Er starb über ein Reklameschild gebeugt, das für verbilligte Rasenmäher warb. Er hatte es nicht einmal bis in den Laden geschafft. Er war einundachtzig Jahre alt und, abgesehen von der Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr, bei bester Gesundheit. Er hatte sich erst in der Woche davor von seinem Arzt gründlich untersuchen lassen. Nita sollte erfahren, dass den Fällen von plötzlichem Tod, von denen ihr jetzt berichtet wurde, erstaunlich oft eine solche ärztliche Untersuchung mit der Attestierung guter Gesundheit vorausgegangen war. Das legt den Gedanken nahe,

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