Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
mischte sich mit Gerüchen nach uraltem Essen, verbrannten Kaffeebohnen, Toiletten, Krankheit und Verfall.
»Obwohl ›Zölibatär‹ vielleicht das falsche Wort ist. Es hört sich an, als hätte es etwas mit Willenskraft zu tun. Ich hätte wohl eher ›Neutrum‹ sagen sollen. Ich halte das nicht für ein Verdienst. Es ist keins.«
Er führte sie um die Treppe herum in die Küche. Dort stand eine riesige Frau mit dem Rücken zu ihnen und rührte etwas auf dem Herd um.
Kent sagte: »Hi, Marnie. Das ist meine Mutter. Kannst du meiner Mutter guten Tag sagen?«
Sally bemerkte eine Veränderung in seiner Stimme. Eine Entspanntheit, eine Ehrlichkeit, vielleicht auch eine Achtung, ganz anders als die gekünstelte Unbeschwertheit ihr gegenüber.
Sie sagte: »Guten Tag, Marnie«, und die Frau wandte sich halb um, zeigte ein zusammengequetschtes Puppengesicht in einem Fleischkloß mit blicklosen Augen.
»Marnie ist diese Woche unsere Köchin«, sagte Kent. »Riecht gut, Marnie.«
Zu seiner Mutter sagte er: »Wir gehen und setzen uns in mein Allerheiligstes, ja?«, und führte sie ein paar Stufen hinunter und einen engen Flur entlang. Es fiel schwer, sich dort zu bewegen, weil sich überall säuberlich zusammengebundene Zeitungen, Zeitschriften und Prospekte stapelten.
»Die müssen hier rausgeschafft werden«, sagte Kent. »Hab ich Steve erst heute Morgen gesagt. Feuergefährlich. Herrgott verdammt, das hab ich doch schon immer gesagt. Jetzt weiß ich, was es heißt.«
Herrgott verdammt. Sie hatte sich gefragt, ob er Laienbruder eines Ordens war, aber wenn ja, dann hätte er doch so etwas nicht gesagt? Natürlich konnte es auch ein nicht-christlicher Orden sein.
Sein Zimmer lag noch einige Stufen weiter unten, im Keller. Es enthielt eine Pritsche, einen lädierten altmodischen Schreibtisch mit Brieffächern und zwei Stühle, in deren Lehnen Stäbe fehlten.
»Die Stühle sind völlig sicher«, sagte er. »Fast alle unsere Sachen sind vom Sperrmüll, aber bei Stühlen, auf denen man nicht sitzen kann, ziehe ich die Grenze.«
Sally setzte sich mit einem Gefühl der Erschöpfung.
»Was bist du?«, fragte sie. »Was machst du eigentlich? Ist das ein Haus für betreutes Wohnen oder so etwas?«
»Nein. Keine feste Einrichtung. Wir nehmen jeden, der kommt.«
»Sogar mich.«
»Sogar dich«, sagte er, ohne zu lächeln. »Wir werden von niemandem finanziert, nur von uns selbst. Wir machen etwas Recycling mit Zeug, das wir sammeln. Diese Zeitungen. Flaschen. Wir verdienen da und dort ein bisschen was. Und wir wechseln uns ab beim Ansprechen des Publikums.«
»Ihr bittet um Almosen?«
»Wir betteln«, sagte er.
»Auf der Straße?«
»Welcher Ort ist dafür besser? Auf der Straße. Und wir gehen in einige Lokale, mit denen wir eine Absprache haben, obwohl es gegen das Gesetz verstößt.«
»Du machst das auch?«
»Ich könnte sie schwerlich bitten, das zu tun, wenn ich es nicht auch täte. Das ist etwas, wozu ich mich überwinden musste. So ziemlich jeder hier hat etwas, das er überwinden muss. Das kann Scham sein. Oder auch das Prinzip des Privateigentums. Wenn jemand einen Zehn-Dollar-Schein spendet oder auch nur einen Dollar, da schlägt dann dieses Prinzip durch. Wem gehört er, hm? Mir oder – Pause – uns? Wenn die Antwort ›mir‹ lautet, wird er meistens sofort ausgegeben, und der Betreffende kommt mit einer Schnapsfahne zurück und sagt, ich weiß nicht, was mit mir los ist, heute hab ich keinen Schnitt gemacht. Später kriegt er dann vielleicht ein schlechtes Gewissen und beichtet. Oder beichtet auch nicht, ist egal. Wir sehen, wie sie tagelang, wochenlang verschwinden und dann wieder hier auftauchen, wenn ihnen der Wind zu hart um die Nase pfeift. Und manchmal siehst du sie die Straßen auf eigene Faust abgrasen, und sie lassen sich nicht anmerken, dass sie dich kennen. Sie kommen nie zurück. Und das ist völlig in Ordnung. Sie haben ihr Studium bei uns erfolgreich abgeschlossen, könnte man sagen. Wenn man an das System glaubt.«
»Kent …«
»Hier heiße ich Jonah.«
»Jonah?«
»Den Namen habe ich mir ausgesucht. Ich dachte erst an Lazarus, aber das war mir zu dramatisch. Du kannst weiterhin Kent zu mir sagen, wenn du magst.«
»Ich möchte wissen, wie dein Leben verlaufen ist. Ich meine, abgesehen von diesen Menschen …«
»Diese Menschen sind mein Leben.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
»Stimmt, das war Klugscheißerei. Aber das hier, das mache ich jetzt seit –
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