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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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erzählte, dass sie in ihrem Leben eine neue Rolle als Schreinergehilfin gefunden habe und dadurch Rich viel näher gekommen sei als vorher, verliebte Rich sich in Nita. Sie arbeitete in der Verwaltung der Universität, an der er Mediävistik lehrte. Als sie zum ersten Mal miteinander schliefen, fand das inmitten von Sägespänen und zwischen den Brettern statt, aus denen das mittlere Zimmer mit dem Deckengewölbe werden sollte. Nita ließ ihre Sonnenbrille liegen – nicht absichtlich, obwohl Bett, die nie etwas liegen ließ, das einfach nicht glauben wollte. Der übliche Knatsch folgte, abgeschmackt und schmerzhaft, und endete damit, dass Bett fortging, erst nach Kalifornien und dann nach Arizona, dass Nita auf Anraten des Verwaltungsleiters bei der Universität kündigte und dass Rich anders als erwartet nicht zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt wurde. Er wurde vorzeitig emeritiert und verkaufte sein Haus in der Stadt. Nita erbte nicht die kleinere Schreinerschürze, sondern las fröhlich inmitten all der Unordnung ihre Bücher, bereitete auf einer Kochplatte rudimentäre Mahlzeiten zu, unternahm lange Spaziergänge, um die Gegend zu erkunden, und kam mit struppigen Sträußen aus Tigerlilien und Wilder Möhre zurück, die sie in leere Farbdosen stopfte. Später, als sie und Rich sich eingelebt hatten, war es ihr etwas peinlich, wenn sie daran dachte, wie bereitwillig sie die jüngere Frau gespielt hatte, die glückliche Ehezerstörerin, die leichtfüßige, lachende, muntere Naive. In Wirklichkeit war sie eine recht ernsthafte, ungelenke Frau mit Hemmungen – wahrhaftig kein Girlie –, die alle gekrönten Häupter von England, nicht nur die Könige, sondern auch die Königinnen, aufzählen und den Dreißigjährigen Krieg rückwärts hersagen konnte, sich aber scheute, vor Leuten zu tanzen und – anders als Bett – nie lernen würde, auf eine Leiter zu steigen.
    Das Haus hat eine Reihe von Zedern auf der einen Seite und einen Bahndamm auf der anderen. Der Zugverkehr war nie besonders stark, und inzwischen mochten es nur noch zwei Züge pro Monat sein. Das Unkraut wucherte zwischen den Gleisen. Einmal, als sie kurz vor den Wechseljahren stand, hatte Nita Rich dazu verleitet, da oben mit ihr zu schlafen, natürlich nicht auf den Schwellen, sondern auf dem Gras dazwischen, und danach waren beide ungeheuer zufrieden mit sich heruntergeklettert.
    Jeden Morgen, wenn sie ihren Platz einnahm, dachte sie sorgfältig an die Orte, wo Rich nicht war. Er war nicht im kleineren Badezimmer, wo immer noch sein Rasierzeug lag sowie verschriebene Tabletten gegen diverse lästige, aber nicht lebensgefährliche Leiden, die er nicht wegwerfen mochte. Auch im Schlafzimmer, das sie gerade aufgeräumt und verlassen hatte, war er nicht. Und nicht im größeren Badezimmer, das er nur betreten hatte, um ein Wannenbad zu nehmen. Oder in der Küche, die er im letzten Jahr fast ganz zu seiner Domäne gemacht hatte. Natürlich war er nicht draußen auf der halb abgespachtelten Dachterrasse, bereit, scherzhaft durchs Fenster zu spähen – hinter dem sie früher vielleicht so getan hätte, als legte sie einen Striptease hin.
    Oder im Arbeitszimmer. Von allen Orten war das derjenige, wo seine Abwesenheit am energischsten durchgesetzt werden musste. Anfangs hatte sie es notwendig gefunden, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und dann von da aus alles zu betrachten, die Papierstapel, den moribunden Computer, die überquellenden Akten, die Bücher, die aufgeschlagen dalagen, mit den Seiten nach unten oder nach oben, und die sich in den Regalen drängten. Jetzt kam sie damit zurecht, sich das alles nur vorzustellen.
    Über kurz oder lang musste sie es betreten. Ihr kam das vor wie ein feindlicher Einmarsch. Sie würde gegen den toten Geist ihres Mannes zu Felde ziehen müssen. Etwas, was sie nie in Betracht gezogen hatte. Rich war für sie von jeher solch ein Fels der Lebenstüchtigkeit, ein so starker und in sich ruhender Mensch, dass sie immer völlig unvernünftigerweise angenommen hatte, er würde sie überleben. Im letzten Jahr war das dann überhaupt kein dummer Aberglaube mehr, sondern wurde für sie beide, wie Nita meinte, zur Gewissheit.
    Sie würde sich als Erstes den Keller vornehmen. Das war wirklich ein Keller, kein Untergeschoss. Bretter bildeten Laufstege über den Erdboden, und die schmalen, hohen Fenster waren von schmutzigen Spinnweben verhangen. Da unten war nichts, was sie je gebraucht hatte. Nur Richs halbvolle

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