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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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solche Arztbesuche tunlichst zu vermeiden, sagte sie.
    Sie hätte so etwas nur zu ihren engsten Freundinnen Virgie und Carol sagen sollen, die gerne lästerten und etwa in ihrem Alter waren (sie war zweiundsechzig). Jüngere fanden solche Äußerungen ungebührlich und glattzüngig. Anfangs waren sie bereit, sich um sie zu scharen. Sie sprachen zwar nicht vom Trauerprozess, aber Nita hatte Angst, sie könnten jeden Augenblick davon anfangen.
    Doch als sie dann damit begann, alles zu regeln, bröckelten natürlich alle bis auf die wahren und bewährten Freunde ab. Der billigste Sarg, sofort unter die Erde, keine Feier irgendeiner Art. Der Bestatter wandte ein, das könne gegen das Gesetz verstoßen, aber sie und Rich hatten sich kundig gemacht. Sie hatten sich vor fast einem Jahr über die Rechtslage informiert, als Nitas Diagnose feststand.
    »Woher sollte ich denn wissen, dass er mir die Schau stiehlt?«
    Die Leute hatten keinen traditionellen Trauergottesdienst erwartet, aber doch irgendeine zeitgenössische Veranstaltung. Zur Feier seines Lebens. Auf der seine Lieblingsmusik gespielt wurde, sich alle bei den Händen hielten und Geschichten erzählten, die Rich priesen und zugleich humorig auf seine Marotten und verzeihlichen Fehler eingingen.
    Genau das, was Rich zum Kotzen gefunden hätte.
    Also wurde alles sofort erledigt, und die weitverbreitete Anteilnahme, die Herzlichkeit schmolzen dahin, obwohl manche, nahm sie an, immer noch sagen würden, dass sie sich um sie sorgten. Virgie und Carol sagten das nicht. Sie sagten nur, dass sie eine selbstsüchtige Tusse sei, wenn sie daran denke, jetzt schon den Löffel abzugeben, früher als notwendig. Dann würden sie nämlich kommen und sie mit Rohrfrei wiederbeleben.
    Sie sagte, das habe sie nicht vor, auch wenn sie darin eine gewisse Logik erkennen könne.
    Ihr Krebs befand sich zurzeit in der Remission – was immer das bedeuten mochte. Es bedeutete nicht »auf dem Rückzug«. Jedenfalls nicht endgültig. Ihre Leber ist der Hauptschauplatz, und solange Nita bei kleinen Häppchen bleibt, beschwert sie sich nicht. Es hätte ihre Freunde nur deprimiert, würde sie sie daran erinnern, dass sie keinen Wein trinken darf. Und Wodka schon gar nicht.
    Die Bestrahlung im Frühjahr scheint ihr doch gutgetan zu haben. Inzwischen ist Hochsommer. Sie meint, jetzt nicht mehr so gelbsüchtig auszusehen – aber vielleicht auch nur, weil sie sich daran gewöhnt hat.
    Sie steht früh auf, wäscht sich und zieht an, was gerade zur Hand ist. Aber sie zieht sich an, sie wäscht sich, sie putzt sich die Zähne und kämmt sich die Haare, die wieder ganz ordentlich gewachsen sind, grau ums Gesicht und dunkel auf dem Hinterkopf, so, wie sie vorher waren. Sie legt Lippenstift auf und zieht die Augenbrauen nach, die jetzt sehr spärlich sind, und aus lebenslangem Bemühen um eine schmale Taille und moderate Hüften prüft sie, was sie in der Hinsicht erreicht hat, auch wenn sie weiß, dass jetzt wohl nur noch ein Wort auf all ihre Körperteile zutrifft: spindeldürr.
    Sie setzt sich in ihren gewohnten breiten Sessel, umgeben von Bücherstapeln und ungelesenen Zeitschriften. Sie nippt vorsichtig an dem Becher mit schwachem Kräutertee, der jetzt ihr Kaffeeersatz ist. Früher bildete sie sich ein, nicht ohne Kaffee leben zu können, aber dann stellte sich heraus, es ist eigentlich nur der große warme Becher, den sie in den Händen halten möchte, der hilft ihr beim Nachdenken oder bei dem, was sie im Verlaufe all der Stunden, all der Tage treibt.
    Das Haus gehörte Rich. Er hatte es gekauft, als er mit seiner Frau Bett zusammenlebte. Es sollte nur ein Wochenendhaus sein, das im Winter unbewohnt blieb. Zwei winzige Schlafzimmer mit angebauter Küche, eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Aber bald machte er sich daran zu schaffen, lernte tischlern, baute einen Flügel für zwei Schlafzimmer und Badezimmer, einen anderen für sein Arbeitszimmer, und verwandelte das ursprüngliche Haus in eine offene Wohnzimmer-Esszimmer-Kücheneinheit. Bett fing Feuer – sie hatte anfangs gesagt, sie könne nicht verstehen, warum er eine solche Klabache gekauft habe, aber praktische Verbesserungen weckten immer ihr Interesse, und sie kaufte zwei zueinander passende Schreinerschürzen. Sie brauchte etwas, was sie beschäftigte, denn das Kochbuch, das sie über mehrere Jahre in Anspruch genommen hatte, war fertiggestellt und erschienen. Sie hatten keine Kinder.
    Und zur selben Zeit, in der Bett den Leuten

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