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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Farbdosen, Bretter in verschiedenen Längen, die womöglich noch etwas hergeben konnten, und Werkzeuge, die noch brauchbar waren oder vielleicht auch nicht mehr. Sie hatte die Tür nur einmal geöffnet und war die Treppe hinuntergegangen, um nachzusehen, dass unten kein Licht angeblieben war, und um sich zu vergewissern, wo die Schalter waren und dass neben ihnen Schildchen klebten, auf denen stand, welcher was regelte. Als sie heraufkam, verriegelte sie die Tür wie üblich auf der Küchenseite. Rich hatte sich über diese Angewohnheit von ihr lustig gemacht und sie gefragt, wer da wohl durch die steinernen Mauern und die gartenzwerggroßen Fenster eindringen und sie bedrohen sollte.
    Trotzdem wäre es leichter, mit dem Keller anzufangen; hundert Mal leichter als mit dem Arbeitszimmer.
    Sie machte zwar das Bett und räumte ein bisschen auf, was sie in der Küche und im Badezimmer benutzt hatte, aber es überstieg ihre Kräfte, sich zu irgendetwas wie einem Hausputz aufzuraffen. Sie konnte kaum eine verbogene Büroklammer und einen nicht mehr haftenden Kühlschrankmagneten wegwerfen, geschweige denn die Schale mit irischen Münzen, die Rich und sie vor fünfzehn Jahren von einer Reise mitgebracht hatten. Alles schien seine ganz eigene Schwere und Fremdheit angenommen zu haben.
    Carol oder Virgie riefen jeden Tag an, gewöhnlich zur Abendbrotzeit, denn offenbar dachten sie, dass dann ihre Einsamkeit am unerträglichsten sein musste. Sie sagte, es geht mir gut, ich komme bald aus meiner Höhle heraus, ich brauche einfach Zeit, ich denke nach und lese viel. Ich esse genug und schlafe lange.
    Was alles stimmte, bis auf das Lesen. Sie saß im Sessel, umgeben von ihren Büchern, ohne ein einziges davon aufzuschlagen. Sie war früher eine ausdauernde Leserin – einer der Gründe, warum Rich gesagt hatte, sie sei die richtige Frau für ihn, sie könne stundenlang dasitzen und lesen und ihn in Ruhe lassen –, während sie jetzt nicht einmal mehr eine halbe Seite lang durchhielt.
    Sie war auch früher nicht die Einmal-und-nie-wieder-Leserin.
Die Brüder Karamasow
,
Die Mühle am Floss
,
Die Flügel der Taube
,
Der Zauberberg
, alle immer wieder. Sie nahm eines davon zur Hand, nur mit dem Gedanken, eine bestimmte Stelle nachzulesen – und konnte dann nicht mehr aufhören, bis sie wieder damit durch war. Sie las auch moderne Romane. Immer nur Romane. Sie hasste es, das Wort »Flucht« im Zusammenhang mit Literatur zu hören. In einer Unterhaltung hätte sie ganz ernsthaft behauptet, das wirkliche Leben sei eine Flucht. Aber das war zu wichtig für eine Unterhaltung.
    Doch jetzt war all das seltsamerweise fort. Nicht erst seit Richs Tod, sondern seit ihrer eigenen Betroffenheit von Krankheit. Damals hatte sie gedacht, die Veränderung sei nur zeitweilig und der Zauber werde zurückkehren, sobald sie bestimmte Medikamente abgesetzt habe und die anstrengenden Behandlungen vorbei seien.
    Offenbar nicht.
    Manchmal versuchte sie, einem imaginären Fragesteller zu erklären, warum nicht.
    »Ich bin zu beschäftigt.«
    »Das sagen alle. Womit?«
    »Ich bin zu sehr damit beschäftigt, achtzugeben.«
    »Worauf?«
    »Ich meine, nachzudenken.«
    »Worüber?«
    »Ach, egal.«
     
    Eines Morgens kam sie, nachdem sie eine Weile lang dagesessen hatte, zu dem Schluss, dass es ein sehr heißer Tag war. Sie sollte aufstehen und die Ventilatoren anstellen. Oder sie konnte mit mehr Umweltbewusstsein die Vorder- und die Hintertür öffnen und versuchen, Durchzug zu machen, damit der Wind, wenn es welchen gab, durchs Fliegengitter und durchs Haus wehte.
    Sie schloss zuerst die Vordertür auf. Und noch bevor sie einen Spaltbreit Morgenlicht eingelassen hatte, bemerkte sie einen dunklen Streifen, der sich vor das Licht schob.
    Ein junger Mann stand draußen vor der Fliegengittertür, die eingehakt war.
    »Wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er. »Konnte die Klingel nicht finden. Ich habe an den Rahmen geklopft, aber Sie haben mich wohl nicht gehört.«
    »Tut mir leid«, sagte sie.
    »Ich soll Ihren Sicherungskasten überprüfen. Wenn Sie mir sagen würden, wo er ist.«
    Sie trat beiseite, um ihn einzulassen. Sie brauchte einen Moment, bis es ihr einfiel.
    »Ach, ja. Im Keller«, sagte sie. »Ich knipse das Licht an. Dann sehen Sie ihn gleich.«
    Er machte die Tür hinter sich zu und bückte sich, um sich die Schuhe auszuziehen.
    »Schon gut«, sagte sie. »Es regnet ja heute nicht.«
    »Ich mach’s doch lieber. Hab ich mir so angewöhnt.

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