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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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abgebaut zu werden, und damit auch all die Freundschaften, Feindschaften und Rivalitäten, die in den letzten zwei Wochen aufgeblüht waren. Wer konnte glauben, dass es nur zwei Wochen gewesen waren?
    Niemand brachte es fertig, darüber zu reden, aber eine Mattigkeit machte sich unter uns breit, eine gelangweilte Übellaunigkeit, und sogar das Wetter spiegelte dieses Gefühl. Es stimmte wahrscheinlich nicht, dass in den vergangenen zwei Wochen jeder Tag heiß und sonnig gewesen war, aber die meisten von uns würden bestimmt mit diesem Eindruck nach Hause fahren. Und jetzt, am Sonntagmorgen, geschah eine Veränderung. Während unserer Andacht im Freien (die sonntags an die Stelle vom Plausch trat) verdunkelten sich die Wolken. Es gab keine Temperaturänderung – wenn überhaupt, dann wurde es heißer –, aber es lag etwas in der Luft, was einige den Geruch eines Gewitters nannten. Und dabei solche Stille. Die Betreuerinnen und sogar der Geistliche, der sonntags aus der nächsten Stadt angefahren kam, sahen gelegentlich besorgt zum Himmel auf.
    Ein paar Tropfen fielen auch, aber nicht mehr. Der Gottesdienst ging zu Ende, ohne dass ein Gewitter losgebrochen wäre. Die Wolken wurden ein wenig heller, nicht genug, um Sonnenschein zu versprechen, aber immerhin so viel, dass unser letztes Bad im See nicht abgesagt werden musste. Danach würde es kein Mittagessen geben; die Küche war nach dem Frühstück geschlossen worden. Der Süßwarenladen blieb zu. Unsere Eltern würden kurz nach zwölf eintreffen, um uns abzuholen, und ein Bus würde für die Sonderlinge kommen. Die meisten unserer Sachen waren schon gepackt, das Bettzeug abgezogen, und die rauen braunen Decken, die sich immer klamm anfühlten, lagen zusammengefaltet am Fußende jeder Pritsche.
    Obwohl wir uns alle darin aufhielten, schwatzten und uns zum Baden umzogen, zeigte sich plötzlich die ganze Dürftigkeit und Düsternis des Schlafsaals.
    Mit dem Strand war es das Gleiche. Es schien weniger Sand zu geben als sonst, dafür lagen mehr Steine da. Und was an Sand vorhanden war, wirkte grau. Das Wasser sah aus, als könnte es kalt sein, obwohl es in Wirklichkeit ganz warm war. Trotzdem hatte sich unsere Begeisterung fürs Baden gelegt, und die meisten von uns wateten ziellos umher. Die Badebetreuerinnen – Pauline und die ältere Frau, die auf die Sonderlinge aufpasste – mussten aufmunternd in die Hände klatschen.
    »Beeilt euch, worauf wartet ihr? Die letzte Gelegenheit in diesem Sommer.«
    Es gab gute Schwimmer unter uns, die sich in der Regel sofort ins Wasser stürzten und auf den Weg zum Badefloß machten. Und alle, die auch nur einigermaßen schwimmen konnten – dazu zählten Charlene und ich –, sollten mindestens einmal zum Floß hinausschwimmen und zurück, um zu beweisen, dass sie es in Wasser, das ihnen bis über den Kopf reichte, wenigstens ein paar Meter weit schafften. Pauline schwamm sonst sofort hinaus und blieb in tieferem Wasser, um Ausschau zu halten, ob jemand in Not geriet, und auch, um darauf zu achten, dass alle, die hinausschwimmen sollten, es auch taten. An diesem Tag jedoch schienen sich längst nicht alle, von denen es erwartet wurde, hinauszuwagen, und selbst Pauline blieb nach ihren ersten Anfeuerungen oder dann Aufforderungen, damit wenigstens alle ins Wasser gingen, am Floß und trieb ihre Späße mit den verlässlichen Schwimmern. Die meisten von uns paddelten im Flachen herum, schwammen ein Stückchen, standen dann, wo sie Grund hatten, und bespritzten sich, oder sie machten toter Mann, als könne man nicht mehr von ihnen verlangen, noch hinauszuschwimmen. Die Frau, die auf die Sonderlinge aufpasste, stand, wo ihr das Wasser kaum bis zur Taille reichte – die meisten von den Sonderlingen waren nur bis zu den Knien ins Wasser gegangen –, und das Oberteil ihres geblümten, mit einem Röckchen versehenen Badeanzugs war nicht einmal nass. Sie beugte sich vor und beplanschte ihre Schützlinge ein wenig, lachte und rief ihnen zu: »Macht euch das nicht Spaß?«
    Charlene und ich waren da, wo uns das Wasser höchstens bis zur Brust reichte. Wir gehörten zu denen, die herumalberten, toter Mann machten, ein paar Züge auf dem Rücken oder auf der Brust schwammen, ohne dass uns jemand befahl, mit dem Quatsch aufzuhören. Wir probierten aus, wie lange wir unter Wasser die Augen offen halten konnten, wir schlichen uns an und sprangen einander auf den Rücken. Um uns herum gab es viele, die johlend und kreischend vor Lachen

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