Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Essen, als wir aufstanden und die Teller einsammelten, hielt ich den Kopf gesenkt und schaute kein einziges Mal in ihre Richtung, trotzdem bekam ich mit, wie ihre Augen auf mir ruhten, wie sie mich erkannte, wie sie ihren Mund zu diesem schiefen kleinen Lächeln verzog oder dieses sonderbare kehlige Kichern von sich gab.
»Sie hat dich gesehen«, sagte Charlene. »Schau nicht hin. Schau nicht hin. Ich stell mich zwischen sie und dich. Los. Geh weiter.«
»Kommt sie hierher?«
»Nein. Sie steht bloß da. Sie schaut dich bloß an.«
»Lächelt sie?«
»Irgendwie.«
»Ich kann sie nicht ansehen. Sonst wird mir schlecht.«
Wie sehr verfolgte sie mich in den verbleibenden anderthalb Tagen? Charlene und ich benutzten ständig dieses Wort, obwohl Verna in Wahrheit gar nicht in unsere Nähe kam.
Verfolgung
. Das hatte einen erwachsenen, juristischen Klang. Wir hielten ständig Ausschau, als sei ein Stalker hinter uns oder hinter mir her. Wir versuchten, Verna auf den Fersen zu bleiben, und Charlene erstattete Bericht über ihre Haltung oder ihr Aussehen. Ich riskierte es ein paarmal, sie anzuschauen, nachdem Charlene gesagt hatte: »Du kannst. Jetzt merkt sie’s nicht.«
Bei diesen Gelegenheiten schien Verna etwas niedergeschlagen oder verdrossen oder verwirrt zu sein, als sei sie, ebenso wie die meisten Sonderlinge, ausgesetzt worden und verstehe nicht ganz, wo sie jetzt war oder was sie hier tat. Einige von ihnen – wenn auch nicht sie – hatten einen Aufruhr verursacht, weil sie davongelaufen waren, in den Wald aus Kiefern, Zedern und Pappeln auf der Steilküste hinter dem Strand oder auf dem Sandweg, der zur Landstraße führte. Danach wurde eine Versammlung einberufen, und wir wurden alle aufgefordert, auf unsere neuen Freunde achtzugeben, die mit dem Gelände nicht so vertraut waren wie wir. Charlene stieß mich dabei in die Rippen. Natürlich bemerkte sie an Verna keine Veränderung, keine Abnahme des Selbstbewusstseins oder der Körpergröße, und berichtete ständig von ihrem verschlagenen und bösen Gesichtsausdruck, von der Bedrohung, die von ihr ausging. Und vielleicht hatte sie recht – vielleicht sah Verna in Charlene, dieser neuen Freundin oder Leibwächterin von mir, dieser Fremden, ein Zeichen dafür, wie verändert und unsicher hier alles war, und sie zog deshalb ein finsteres Gesicht, auch wenn ich es nicht sah.
»Du hast mir nie von ihren Händen erzählt«, sagte Charlene.
»Was ist damit?«
»Sie hat die längsten Finger, die ich je gesehen habe. Sie könnte sie einfach um deinen Hals legen und dich erwürgen. Könnte sie. Wäre es nicht schrecklich, nachts mit ihr in einem Zelt zu sein?«
Ich pflichtete ihr bei. Schrecklich.
»Aber die anderen in ihrem Zelt sind zu blöde, um es zu merken.«
Es gab eine Veränderung an jenem Wochenende, ein ganz anderes Gefühl im Lager. Nichts Drastisches. Die Mahlzeiten wurden zu den üblichen Stunden von dem Gong im Speisesaal angekündigt, und das aufgetragene Essen wurde weder besser noch schlechter. Es kamen die Ruhestunden, die Spielstunden und die Badestunden. Der Süßwarenladen machte wie immer auf, und wir wurden wie sonst auch zum Plausch versammelt. Aber es herrschte eine Atmosphäre wachsender Ruhelosigkeit und Unaufmerksamkeit. Man konnte sie sogar bei den Betreuerinnen spüren, denen die gängigen Ermahnungen oder Ermutigungen nicht so leicht wie sonst über die Lippen gingen, sondern die uns eine Sekunde lang ansahen, als versuchten sie sich daran zu erinnern, was sie normalerweise sagten. Und all das schien mit dem Eintreffen der Sonderlinge angefangen zu haben. Ihre Anwesenheit hatte das Lager verändert. Davor war es ein richtiges Ferienlager gewesen, mit all seinen festen Regeln und Einschränkungen und Vergnügungen, unvermeidlich wie die Schule oder jeder andere Teil des Kinderlebens, und dann hatte es angefangen, an den Rändern zu zerbröckeln, sich als etwas Provisorisches zu entpuppen. Als Theater.
Lag es daran, dass wir beim Anblick der Sonderlinge auf den Gedanken kamen, wenn die am Lager teilnehmen durften, dann gab es überhaupt keine richtigen Lagerteilnehmer? Teilweise schon. Aber teilweise lag es auch daran, dass sehr bald all das vorbei sein würde, die Regeln nicht mehr gültig, und wir würden von unseren Eltern abgeholt werden, um unser altes Leben wiederaufzunehmen, und die Betreuerinnen würden wieder normale Menschen sein, nicht einmal Lehrerinnen. Wir lebten in einem Bühnenbild, das kurz davor stand,
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