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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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die Wahrheit –, das jetzt auf die Reihe zu bringen.) Drei davon waren wichtig, und alle drei befanden sich chronologisch unter dem ersten halben Dutzend dieser Rechnung. Mit »wichtig« meine ich, dass mit diesen drei – nein, nur zwei, denn der dritte bedeutete mir wesentlich mehr als ich ihm – dass also mit diesen zwei die Zeit kommen würde, wenn man sich öffnen und weit mehr als nur den Körper hingeben möchte, wenn man sein ganzes Leben bei ihm in Sicherheit bringen will.
    Ich tat es dann doch nicht, aber es war knapp.
    Offenbar war ich von dieser Sicherheit nicht restlos überzeugt.
     
    Unlängst erhielt ich einen weiteren Brief. Er war von dem College, an dem ich bis zu meiner Pensionierung unterrichtet hatte, weitergeleitet worden. Ich fand ihn vor, als ich von einer Reise nach Patagonien zurückkehrte. (Ich habe mich zu einer abgehärteten Weltreisenden entwickelt.) Er war über einen Monat alt.
    Ein mit der Maschine geschriebener Brief – wofür sich der Absender sofort entschuldigte.
    »Meine Handschrift ist grauenhaft«, schrieb er und stellte sich dann als der Mann »Ihrer alten Kameradin aus Kindheitstagen, Charlene« vor. Er sagte, es tue ihm sehr, sehr leid, mir eine schlechte Nachricht mitteilen zu müssen. Charlene lag im Princess Margaret Hospital in Toronto. Ihr Krebs hatte in der Lunge begonnen und sich zur Leber ausgebreitet. Sie war bedauerlicherweise ihr Leben lang Raucherin gewesen. Sie hatte nur noch kurze Zeit zu leben. Sie hatte nicht sehr oft von mir gesprochen, aber wenn sie es über die Jahre hinweg tat, dann immer mit Freude über meine bemerkenswerten Leistungen. Er wisse, wie sehr sie mich schätze, und jetzt am Ende ihres Lebens schien sie großen Wert darauf zu legen, mich zu sehen. Sie hatte ihn gebeten, mich ausfindig zu machen. Möglich, dass Kindheitserinnerungen am meisten bedeuteten, schrieb er. Die Gefühle von Kindern füreinander. Eine Kraft wie keine andere.
    Wahrscheinlich ist sie inzwischen tot, dachte ich.
    Aber wenn sie es war – so legte ich mir die Dinge zurecht –, falls ja, dann ging ich kein Risiko ein, wenn ich im Krankenhaus vorbeischaute und mich erkundigte. Dann hätte ich ein reines Gewissen oder wie man es nun nennen will. Ich konnte ihm kurz schreiben, dass ich unglücklicherweise fort gewesen, aber so bald wie möglich hingegangen sei.
    Nein. Besser kein Brief. Er könnte in meinem Leben auftauchen und sich bei mir bedanken. Das Wort »Kameradin« machte mich hellhörig. Ebenso, wenn auch anders, die »bemerkenswerten Leistungen«.
     
    Das Princess Margaret Hospital ist nur ein paar Querstraßen weit fort von meiner Wohnung. An einem sonnigen Frühlingstag ging ich hin. Ich weiß nicht, warum ich nicht einfach anrief. Vielleicht wollte ich mir einbilden, dass ich mich nach Kräften angestrengt hatte.
    In der Anmeldung erfuhr ich, dass Charlene noch am Leben war. Als ich gefragt wurde, ob ich sie besuchen wollte, konnte ich schlecht nein sagen.
    Ich nahm den Fahrstuhl und dachte immer noch, ich sei fähig, wegzugehen, bevor ich das Schwesternzimmer auf ihrer Etage gefunden hatte. Oder dass ich einfach kehrtmachen und mit dem nächsten Fahrstuhl hinunterfahren konnte. Die Dame in der Anmeldung unten würde gar nicht merken, dass ich schon wieder ging. Tatsächlich hätte ich unbemerkt fortgehen können, sobald sie sich dem Nächsten, der an der Reihe war, zugewandt hatte, und selbst wenn es ihr aufgefallen wäre, was hätte es ausgemacht?
    Ich hätte mich vermutlich geschämt. Weniger wegen meines Mangels an Mitgefühl als vielmehr wegen meines Mangels an seelischer Kraft.
    Ich erkundigte mich bei den Schwestern und erfuhr ihre Zimmernummer.
    Es war ein Privatzimmer, recht klein, ohne beeindruckende Geräte oder Blumen oder Infusionsflaschen. Anfangs konnte ich Charlene nicht sehen. Eine Schwester beugte sich über das Bett, in dem sich nur Decken aufzutürmen schienen, ohne dass eine Person zu sehen war. Die vergrößerte Leber, dachte ich, und wünschte, ich hätte das Weite gesucht, solange ich noch konnte.
    Die Schwester richtete sich auf, drehte sich um und lächelte mir zu. Sie war eine rundliche braune Frau, die mit leiser, einschmeichelnder Stimme sprach, was bedeuten konnte, dass sie aus der Karibik kam.
    »Sie sind die Marlin«, sagte sie.
    Etwas an dem Wort schien ihr Freude zu bereiten.
    »Sie hat sich so gewünscht, dass Sie kommen. Sie können näher treten.«
    Ich gehorchte und sah hinunter auf einen aufgedunsenen Körper

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