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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dasselbe taten.
    Währenddessen waren einige Eltern oder Abholer zu früh eingetroffen und ließen wissen, dass sie keine Zeit zu verlieren hätten, also wurden die Kinder, die zu ihnen gehörten, aus dem Wasser gerufen. Das sorgte für zusätzlichen Lärm und Aufruhr.
    »Sieh doch, sieh«, sagte Charlene. Oder krächzte vielmehr, weil ich sie unter Wasser gedrückt hatte und sie gerade erst wieder triefend und spuckend aufgetaucht war.
    Ich schaute mich um und erblickte Verna, die auf uns zusteuerte, sie trug eine hellblaue Badekappe aus Gummi, patschte mit ihren langen Händen aufs Wasser und lächelte, als seien ihre Rechte auf mich plötzlich wieder in Kraft.
     
    Ich bin mit Charlene nicht in Kontakt geblieben. Ich weiß nicht einmal mehr, wie wir uns verabschiedeten. Falls wir uns überhaupt voneinander verabschiedeten. Ich habe die vage Vorstellung, dass beide Elternpaare ungefähr gleichzeitig eintrafen, dass wir in verschiedene Autos kletterten und uns wieder – was konnten wir anderes tun? – in unser altes Leben einfügten. Charlenes Eltern hatten höchstwahrscheinlich ein Auto, das nicht so popelig und laut und unzuverlässig war wie das meiner Eltern zu der Zeit, aber selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wir wären nie auf die Idee gekommen, unsere Familien miteinander bekannt zu machen. Alle, darunter auch wir, hatten es eilig, fortzukommen, weg von den Inseln des Aufruhrs über verlorenes Eigentum oder darüber, wer seine Eltern gefunden oder nicht gefunden hatte oder noch nicht in den Bus gestiegen war.
    Durch Zufall sah ich Jahre später Charlenes Hochzeitsfoto. Das war zu jener Zeit, als Hochzeitsfotos noch in die Zeitung kamen, nicht nur in Kleinstädten, sondern auch in den Großstädten. Ich sah es in einer Torontoer Zeitung, die ich durchblätterte, als ich in einem Café in der Bloor Street auf eine Freundin wartete.
    Die Hochzeit hatte in Guelph stattgefunden. Der Bräutigam stammte aus Toronto und war Absolvent von Osgoode Hall. Er war sehr groß – oder Charlene war ziemlich klein geraten. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, sogar mit den im festen, gelackten Helmstil jener Zeit hochfrisierten Haaren. Durch die Frisur wirkte ihr Gesicht zusammengedrückt und nichtssagend, aber ich hatte den Eindruck, dass ihre Augen heftig nach Art von Cleopatra geschminkt und ihre Lippen blass angemalt waren. Das klingt grotesk, aber so war eben der »Look«, der zu jener Zeit bewundert wurde. Das Einzige, was mich an ihr kindliches Ich erinnerte, war der kleine lustige Knubbel auf ihrem Kinn.
    Sie – die Braut, wie es hieß – war Absolventin vom St. Hilda’s College in Toronto.
    Also musste sie hier in Toronto gewesen und aufs St. Hilda’s gegangen sein, während ich in derselben Stadt war und aufs University College ging. Vielleicht waren wir zur selben Zeit und auf denselben Straßen oder Wegen auf dem Campus herumgelaufen. Und uns nie begegnet. Ich glaubte nicht, dass sie mich gesehen und sich davor gedrückt hatte, mit mir zu reden. Ich hätte mich jedenfalls nicht davor gedrückt, mit ihr zu reden. Natürlich hätte ich mich für eine ernsthaftere Studentin gehalten, sobald ich erfahren hätte, dass sie aufs St. Hilda’s ging. Meine Freundinnen und ich hielten das St. Hilda’s für ein Damen-College.
    Jetzt war ich Studentin kurz vor dem Abschluss in Anthropologie. Ich hatte beschlossen, nie zu heiraten, auch wenn ich damit Liebhaber nicht ausschloss. Ich trug die Haare lang und glatt – meine Freundinnen und ich nahmen den Stil der Hippies vorweg. Meine Kindheitserinnerungen waren wesentlich ferner, blasser und unwichtiger, als sie mir heute vorkommen.
    Ich hätte Charlene an die Adresse ihrer Eltern in Guelph schreiben können, die in der Zeitung stand. Aber ich tat es nicht. Ich hätte es für den Gipfel der Heuchelei gehalten, einer Frau zu ihrer Heirat zu gratulieren.
     
    Aber sie schrieb mir, vielleicht fünfzehn Jahre später. Sie adressierte den Brief an meinen Verlag.
    »Meine alte Kameradin Marlene«, schrieb sie. »Ich kann Dir gar nicht sagen, wie aufgeregt und glücklich ich war, Deinen Namen im
Maclean’s
zu lesen. Und wie beeindruckt ich davon bin, dass Du ein Buch geschrieben hast. Ich habe es mir noch nicht besorgt, weil wir verreist waren, aber ich werde es bestimmt machen – und es auch lesen –, sobald ich kann. Ich ging bloß die Zeitschriften durch, die sich in unserer Abwesenheit angesammelt hatten, und dann sah ich dieses tolle Foto von

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