Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Dir und das interessante Interview. Und ich dachte, ich muss Dir schreiben und Dir gratulieren.
Vielleicht bist Du verheiratet, schreibst aber unter deinem Mädchennamen? Vielleicht hast Du Familie? Bitte schreib mir und erzähl mir alles von Dir. Leider bin ich kinderlos, aber ich beschäftige mich mit ehrenamtlicher Arbeit, mit dem Garten und gehe mit Kit (meinem Mann) segeln. Es gibt immer so viel zu tun. Zurzeit bin ich Mitglied der Bibliothekskommission, und ich werde denen den Hals umdrehen, wenn sie Dein Buch noch nicht bestellt haben.
Noch mal Glückwünsche. Ich muss sagen, ich war überrascht, aber nicht völlig, weil ich immer so eine Ahnung hatte, aus Dir wird mal was Besonderes.«
Ich setzte mich auch zu der Zeit nicht mit ihr in Verbindung. Ich sah darin wenig Sinn. Anfangs fielen mir die Wörter »was Besonderes« ganz am Ende nicht auf, aber wenn ich später daran dachte, gab es mir jedes Mal einen kleinen Ruck. Ich sagte mir jedoch und glaube auch immer noch, dass sie damit auf nichts anspielen wollte.
Das Buch, das sie meinte, war aus einer Doktorarbeit entstanden, von der mir abgeraten worden war. Ich promovierte dann über ein anderes Thema, kehrte aber immer wieder, wenn meine Zeit es erlaubte, zu meinem ursprünglichen Thema zurück wie zu einem Hobby. Ich habe seitdem an einer Reihe von Büchern mitgearbeitet, wie es von mir erwartet wurde, aber dieses Buch, das ich alleine verfasste, war das einzige, das für einen kleinen Wirbel sorgte und mir etwas Beachtung in der Außenwelt eintrug (und selbstredend einiges an Missbilligung in Kollegenkreisen). Es ist jetzt vergriffen. Es hieß
Idioten und Idole
– ein Titel, mit dem ich heute nie und nimmer durchkäme und der sogar damals meinen Verleger nervös machte, auch wenn er zugeben musste, dass er zugkräftig war.
Was ich zu erkunden versuchte, das war die Haltung von Menschen in verschiedenen Kulturen – man wagt nicht, das Wort »primitiv« zu benutzen, um solche Kulturen zu beschreiben –, ihre Haltung gegenüber Menschen, die geistig oder körperlich einzigartig sind. Die Wörter »geistesschwach«, »behindert« und »zurückgeblieben« sind natürlich auch in den Mülleimer verbannt worden, und das wahrscheinlich aus gutem Grund – nicht einfach, weil solche Wörter eine überhebliche Haltung und gewohnheitsmäßige Voreingenommenheit implizieren können, sondern weil sie nicht wirklich aussagekräftig sind. Diese Wörter schieben vieles beiseite, was an diesen Menschen bemerkenswert und sogar beängstigend ist – oder ihnen jedenfalls eine ungewöhnliche Kraft verleiht. Und es war interessant, ein gewisses Maß an Verehrung ebenso wie an Verfolgung zu entdecken sowie die – nicht völlig unzutreffende – Zuschreibung einer ganzen Reihe von Fähigkeiten, die als heilig, zauberkräftig, gefährlich oder wertvoll galten. Ich tat mein Möglichstes, um die historische sowie die zeitgenössische Forschung zu berücksichtigen, und zog Gedichte, Erzählungen, Romane und natürlich religiöse Bräuche heran. Selbstverständlich bemängelten meine Kollegen, ich sei zu literarisch und habe all meine Informationen aus Büchern bezogen, aber ich konnte damals nicht die Welt bereisen; es war mir nicht gelungen, ein Forschungsstipendium zu erlangen.
Natürlich konnte ich eine Verbindung erkennen, und ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Charlene sie auch erkennen würde. Es ist sonderbar, wie fern und unwichtig mir das zu sein schien, nur ein Ausgangspunkt. So wie mir alles aus der Kindheit damals vorkam. Wegen des Weges, den ich inzwischen zurückgelegt hatte, bis zum Erreichen des Erwachsenenalters. Der Sicherheit.
»Mädchenname« hatte Charlene geschrieben. Ein Ausdruck, den ich lange nicht mehr gehört hatte. Er ist nicht weit fort von »Mädchenhaftigkeit«, ein Wort, das keusch und traurig klingt. Und in meinem Fall kaum angebracht. Schon als ich Charlenes Hochzeitsfoto betrachtete, war ich keine Jungfrau mehr – sie allerdings höchstwahrscheinlich auch nicht. Nicht, dass ich einen Schwarm von Liebhabern gehabt hätte – oder auch nur die meisten davon so nennen würde. Wie fast alle Frauen meiner Altersgruppe, die nicht in einer monogamen Ehe gelebt haben, weiß ich die Zahl. Sechzehn. Ich bin überzeugt, dass viele jüngere Frauen diese Summe erreichen, bevor sie dreißig oder vielleicht sogar zwanzig sind. (Als ich Charlenes Brief erhielt, war die Summe natürlich geringer. Ich habe keine Lust – und das ist
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