Zuckerblut
die Lindt für 14.30 Uhr angesetzt hatte, waren noch über drei Stunden Zeit. Wellmann hatte die Apfelschorle fast ausgetrunken und auch der Milchkaffee seines Chefs war nun kalt genug. Lindt trank ihn gewohnheitsmäßig erst, wenn er einigermaßen abgekühlt war, dann aber ziemlich schnell.
Er schaute seinen Kollegen nachdenklich an und meinte: »Alle machen was, Paul. Der Graphologe vergleicht die Handschriften, Jan kümmert sich um den Pflegedienst, die Patienten und die Daten aus dem Einwohnerregister, die anderen Kollegen klappern die beiden Wohnblocks ab. Was bleibt dann noch für uns beide?«
»Die Technik und das Labor hast du vergessen, Oskar. Die bestimmen doch gerade die DNA der fünf Blutstropfen. Aber für uns bleibt im Moment wirklich nicht viel zu tun.«
Lindt wurde unwohl bei dem Gedanken. Wenn er auch nach außen hin eher behäbig wirkte – die Pfeife und der stämmige Körperbau verstärkten diesen Eindruck noch – so passte es ihm überhaupt nicht, untätig herumzusitzen und zu warten. Er konnte es kaum ertragen, nicht weiter zu kommen. In solchen Situationen verschlechterte sich seine Stimmung zusehends und selbst die beiden engsten Mitarbeiter hielten dann ausreichend Abstand zu ihrem Chef.
Die Laune konnte man Lindt problemlos am Gesicht ablesen und als Paul Wellmann den immer düsterer werdenden Blick seines Kollegen aufschnappte, meinte er schnell: »Ich glaube, Jan könnte im Büro noch etwas Unterstützung vertragen. Brauchst du den Wagen?«
»Nimm ihn ruhig, ich gehe zu Fuß. Vielleicht kommt mir unterwegs eine Idee.«
6
Sie zahlten und Wellmann fuhr mit dem weinroten Citroën davon. Er war froh, Lindts Laune nicht länger ertragen zu müssen. Im Rückspiegel konnte er noch erkennen, wie dieser mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, umgeben von einer dichten Wolke aus Pfeifenrauch, in entgegengesetzter Richtung davonging.
Ob die Liste mit den Patientennamen etwas hergab? Oder die Abfrage beim Einwohnermeldeamt?
Das schrille Klingeln der Warnglocke riss ihn zurück in die Realität. In Gedanken versunken wäre der Kommissar fast von einer Straßenbahn erfasst worden. Schnell machte er zwei Schritte rückwärts bis auf den Bürgersteig. ›Puh, das war aber knapp!‹ Sein Puls war sprunghaft angestiegen und er musste erst einmal tief Luft holen.
Ein weiteres Klingeln ertönte. Diesmal allerdings war es ein anderer Ton und kam aus Lindts eigener Hosentasche.
Jan Sternberg war etwas irritiert, als sich sein Vorgesetzter schwer atmend meldete. »Alles in Ordnung, Chef?«, fragte er besorgt. »Ja, ja, ich wollte mich nur eben mit einer Straßenbahn anlegen ... was gibt’s denn, Jan?«
»Das Einwohnermeldeamt hat ganz schnell gearbeitet«, berichtete Sternberg.
»Hätte ich gar nicht erwartet«, brummte Lindt zurück.
»Doch, doch, ich war auch ganz erstaunt«, fuhr sein Mitarbeiter fort. »Die Daten der Bewohner aller fünf Häuser haben wir jetzt komplett vorliegen. Auf den ersten Blick alles unauffällig, wenn nicht ...«
»Was denn?«, wollte der Kommissar ungeduldig wissen.
»Wenn nicht in jedem der fünf Häuser in den letzten Monaten allein stehende ältere Personen verstorben wären.«
Lindt pfiff leise durch die Zähne. »In welchem Alter waren die Leute denn?«
»Vier Frauen und ein Mann, alle zwischen Mitte siebzig und Ende achtzig. Der letzte Todesfall war vor vier Wochen in dem Haus mit der Oststadt-Adresse.«
»Da bin ich doch noch ganz in der Nähe, das werde ich mir gleich mal genauer anschauen.« Er ließ sich noch den Namen der verstorbenen Frau geben und eilte mit langen Schritten zurück zu dem Haus, das er vorhin mit Paul Wellmann zusammen vom gegenüberliegenden Straßencafé aus längere Zeit betrachtet hatte.
›Würde mich doch wirklich interessieren, ob wir es mit Miet- oder mit Eigentumswohnungen zu tun haben?‹, überlegte er sich einen Vorwand, um unverfänglich ein Gespräch zu beginnen.
Kurzerhand sprach Lindt eine Frau an, die gerade aus dem Eingang kam und interessierte sich dafür, ob in diesem Haus eine Wohnung zu vermieten wäre – der Baustil würde ihn so ansprechen. Er faselte noch etwas von hohen Räumen und Großbürgertum, aber die Frau antwortete direkt und ohne Umschweife: »Mieten? Mieten können Sie hier gar nichts. In unserem Haus gibt es nur Eigentumswohnungen, die alle von den Besitzern selbst genutzt werden. Bis zur letzten Woche allerdings hätten Sie eine Wohnung kaufen können. Aber die
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