Zuckerblut
ist jetzt weg.«
Sie zeigte zu drei großen Fenstern im dritten Stock: »Da, wo die Frau Wieland, Charlotte Wieland, gewohnt hat. Sie war allein stehend und lag eines Morgens tot im Bett. Schöne Wohnung, direkt über uns, aber wie gesagt, leider schon verkauft.«
»Schade, das wäre vielleicht was gewesen«, bedauerte Lindt. Er begann, noch etwas nachzubohren: »Ach, war sie denn länger krank, die Frau Wieland, die da gewohnt hat?«
Die Antwort kam schnell: »Eigentlich gar nicht, wir waren auch ganz verwundert über ihren plötzlichen Tod. Früher hab ich ihr ab und zu ein Stückchen Kuchen hochgebracht, da gab es schon mal ein persönliches Wort. Etwas Ernstes hat ihr bestimmt nicht gefehlt, das hätte sie sicherlich erzählt. Allerdings wurde sie vor ein paar Jahren zuckerkrank, da durfte sie meinen Kuchen nicht mehr essen. Zuletzt musste sie sogar regelmäßig gespritzt werden. Das war bestimmt auch der Grund, warum sie so plötzlich ...« Sie schluckte: »Manchmal geht’s dann halt doch schnell.«
Lindt wunderte sich, warum ihm die Frau so bereitwillig Auskunft gab, obwohl er sich gar nicht als Polizeibeamter vorgestellt oder ausgewiesen hatte. Wahrscheinlich lag es an seinem vertrauenswürdigen Äußeren oder die Gute langweilte sich und war froh über ein kleines Schwätzchen auf dem Bürgersteig.
»Wissen Sie«, ging es gleich darauf weiter, »Geld hat sie bestimmt genug gehabt, doch von ihren vier Neffen und Nichten hat sich keiner um die Tante gekümmert. Alle wohnen hier in Karlsruhe, gar nicht weit weg, aber denen hat sie ein schönes Schnippchen geschlagen – bis auf einen kleinen Rest das gesamte Erbe einem Verein vermacht! Einer der Neffen hat das ganz empört meinem Mann erzählt.«
»Bestimmt dem Tierschutz«, gab Lindt der Unterhaltung neue Nahrung.
»Ach wo, Tiere, nein, Hunde und Katzen, die stinken nur und machen Dreck, hat sie immer gesagt – die mochte sie nicht. Aber sie hat wohl ihr ganzes Leben darunter gelitten, keine eigenen Kinder zu haben und deshalb fiel ihre Wahl auf eine Kinderhilfe für Waisen auf dem Balkan. Man hat schon in der Zeitung von dem Verein gelesen, aber auf den genauen Namen komme ich jetzt nicht.«
»Südost?«, half ihr Lindt weiter, denn spontan erinnerte er sich an das Büro des Pflegedienstes. »Vielleicht Kindernothilfe-Südost?«
»Genau, ganz genau, so heißt die Organisation. Sogar den Erlös aus der Wohnung haben die bekommen. Da waren die Verwandten vielleicht wütend, dass sie nur noch einen minimalen Teil geerbt haben. Aber ich finde das nicht verkehrt, denn bei den Waisenkindern dort ist das Geld sicher besser aufgehoben, als hier bei denen, die eh schon alles haben. Hätten halt mal öfter nach ihrer Tante schauen sollen.«
Lindt versuchte einen Moment lang, sich mögliche Zusammenhänge vorzustellen, wandte sich aber gleich wieder an die Frau. Etwas ging ihm durch den Kopf.
»Sagen Sie, konnte sich ihre Nachbarin das Insulin denn selbst spritzen?«
Die Neugier des Kommissars war jetzt doch eine Spur zu auffällig geworden, denn seine Gesprächspartnerin hob aufs Mal die Augenbrauen und legte dann ihre Stirn in tiefe Falten. Geradeheraus fragte sie ihn: »Warum wollen Sie das denn wissen, ich denke, Sie suchen eine Wohnung?«
Lindt konnte nun nicht mehr anders und stellte sich mit seinem Dienstausweis vor.
»Ach, von der Polizei sind Sie, na dann ... ja ...«, sie zögerte. »Gibt es denn da was Verdächtiges?«
»Nein, nein, die Angelegenheit, in der wir ermitteln, hat mit ihrer Nachbarin sicher nichts zu tun«, versuchte Lindt zu beschwichtigen, »aber es würde mich trotzdem interessieren, wie sie das Insulin bekommen hat.«
»Es gab da so ein kleines Gerät, eine Art automatische Spritze mit Vorratsbehälter drin. ›Pen‹ sagte sie dazu. Die Menge konnte man genau einstellen. Eigentlich hätte sie sich die Injektion damit selbst geben sollen – so wollte es die Krankenkasse – aber das war ihr unangenehm. Dann ließ sie einfach eine Krankenschwester kommen. Das hat zwar was gekostet, aber Geld war kein Thema für die gute Frau Wieland. Außerdem hatte sie noch etwas Unterhaltung und Ansprache, wenn die Schwester kam. Eine Blutzuckermessung war auch immer gleich dabei. Ein Pieks in den Finger und ein Tropfen Blut haben genügt, um den Wert im Messgerät abzulesen.«
»Wissen Sie denn, von welcher Organisation die Schwester kam? Vielleicht können Sie sich ja noch an ein Auto erinnern?«
»Ja, das kann ich Ihnen genau sagen. So
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