Zuckerguss (German Edition)
irritiert guckt wie ich.
Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass das Riesenrad sich dreht. Der Strom ist wieder da. Ich schwanke zwischen Erleichterung und unsäglicher Enttäuschung und Wut. Wut, dass ausgerechnet jetzt, nachdem wir ewig darauf gewartet haben, der blöde Strom wieder da ist. Genau dann, als David mich küssen wollte. Wie sehr muss mich der liebe Gott hassen, wenn er mir sogar das vereitelt. Nachdem ich Höllenqualen in diesem Riesenrad ausgestanden habe, gönnt er mir nicht mal dieses klitzekleine Vergnügen.
Vielen Dank auch.
Tja, eigentlich sollte ich ihm dankbar sein. Denn mal ehrlich, was habe ich mir dabei gedacht? Gut, ich befand mich in einer Ausnahmesituation, und da steht folglich jeder neben sich, aber wollte ich ernsthaft David küssen? David Vahrenberg, diesen … diesen Möchtegernfotografen? Diesen arroganten Kerl?
Zum Glück bleibt mir keine Zeit mehr zum Nachdenken (ich will die Antwort auch gar nicht wissen!), denn unsere Gondel erreicht den Ausstiegsbereich. Ich stürme wie von der Tarantel gestochen und ohne ein weiteres Wort aus der Gondel. Ich flüchte förmlich vor David, vor dem Riesenrad, vor mir und meiner Courage.
Zu Hause angekommen werfe ich mich auf mein Bett und schlage minutenlang wild auf mein Kissen ein. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Danach sinke ich erschöpft in die Kissen und starre finster die Decke an.
Ich muss von allen guten Geistern verlassen worden sein. Für einen Augenblick wollte ich doch tatsächlich, dass David mich küsst. Mehr als alles andere. Hier, alleine in meinem Zimmer, abgeschieden in der Dunkelheit, traue ich mich, mir das einzugestehen. Als wir da oben in der Gondel gefangen waren, dreißig Meter über dem Erdboden, spürte ich zum allerersten Mal, dass da vielleicht doch mehr zwischen uns sein könnte. Und David scheint es ähnlich ergangen zu sein. Der Kussversuch ging immerhin von ihm aus. Das wollen wir nicht außer Acht lassen.
Miriam Behrens, du tickst nicht mehr ganz richtig! Hör endlich auf, da mehr hineinzuinterpretieren, als da war. David tut dir einen Gefallen. Nicht mehr und nicht weniger.
Also Schluss jetzt mit dem Unsinn!
Entnervt vergrabe ich meinen Kopf unter der Bettdecke.
17
Am nächsten Morgen fühle ich mich wie gerädert. Kein Wunder, denn ich habe die halbe Nacht wachgelegen und mir den Kopf über den gestrigen Abend zermartert. Der Beinahe-Kuss und Davids Bereitschaft, nach wie vor meinen Freund zu mimen, verwirren mich von Tag zu Tag mehr. Zu einem Ergebnis bin ich trotz größter Anstrengungen nicht gekommen. Stattdessen bin ich irgendwann gegen Morgen eingeschlafen und habe von fliegenden Riesenrädern und Himbeersahnetorten mit Davids Konterfei drauf geträumt.
Ächzend quäle ich mich aus dem Bett und schleppe mich ins Bad. Ein Blick in den Spiegel bestätigt, was ich vorher schon wusste. Dicke Augenringe zieren mein blasses Gesicht, die Haare stehen mir in sämtliche Richtungen ab und ich habe drei fette Pickel auf der Stirn. Gratulation, den Job im Gruselkabinett habe ich sicher.
Nach einer eiskalten Dusche fühle ich mich zumindest halbwegs wie ein Mensch und bereit, mich dem unausweichlichen Verhör meiner Mutter zu stellen. Ich schlinge ein Handtuch um meine feuchten Haare und schlendere lustlos in die Küche.
Meine Mutter sitzt erwartungsgemäß am Frühstückstisch, vertieft ins Wismarer Tageblatt . Als ich sie begrüße, sieht sie lächelnd auf und faltet die Zeitung zusammen.
»Morgen, mein Schatz. Du siehst müde aus, scheint ziemlich spät geworden zu sein. Ich habe dich gar nicht heimkommen gehört.« Mama wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, den ich geflissentlich ignoriere. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um zu erahnen, was für Gedanken in ihrem Kopf herumschwirren.
Ich schenke mir stumm eine Tasse Kräutertee ein und knabbere an einem Vollkornbrötchen.
»War’s kein schöner Abend?«, erkundigt sie sich unsicher, als ich beharrlich schweige.
»War okay«, erzähle ich widerstrebend. Ich kann meiner Mutter ja schlecht sagen, dass David und ich kurz davor standen, uns zu küssen.
»Sooo? Das Bild spricht aber eine andere Sprache.«
»Welches Bild?«, frage ich verwirrt. Ich habe ein ganz blödes Gefühl.
Meine Mutter deutet stillschweigend auf die Tageszeitung.
Ich pruste vor Schreck fast meinen Tee über den Tisch. Hustend angele ich nach dem Lokalteil. Die gestrige Eröffnung des Hafenfestes ist das Top-Thema und nimmt fast die ganze erste Seite
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