Zuckerguss und Liebeslieder Roman
Nachspeise zu bestellen. »So wie Sie aussehen, setzen Sie bestimmt nie ein Gramm zu.«
Ich genieße das Ganze in vollen Zügen. Ja, ich könnte mir sogar ein Techtelmechtel mit Gerry vorstellen, bevor die mittleren Jahre mich voll zu fassen kriegen. Wenn ich erst Jahr um Jahr an Stephens Seite dahinöde, werde ich auf diese Zeit zurückblicken. Gelegentlich werden meine Kinder mich dabei ertappen, wie ich wehmütig aus dem Fenster auf das Schneetreiben blicke und an Gerry denke, den hinreißenden Amerikaner, den ich hintan lassen musste, als die Pflicht mich zurück in mein Heimatland rief. Ich trage ein Kleid mit Blumenmuster im Stil der Vierzigerjahre, mein Haar ist sorgsam onduliert, mein roter Lippenstift untadelig. Im Hintergrund ist die Filmmusik zu Begegnung zu
hören. »Mami, was hast du denn?«, fragt Mabel mit ihrem geschliffenen britischen Akzent. »Bist du traurig?« Ich lache einmal kurz auf. »Nein, mein Liebling«, erwidere ich tapfer und tupfe mir mit einem frisch gewaschenen Leinentaschentuch eine einzelne Träne ab. Dann nehme ich Mabel bei der Hand und sage munter: »Komm, wir rösten uns ein Stück Teekuchen im Kamin!«
Ende der Vorstellung, zurück ins Hier und Jetzt. Ich entscheide mich für Pfannkuchen mit Waldbeeren und Schlagsahne, Gerry bestellt Käse. Ich erlaube ihm, mir ein zweites Glas einzuschenken und sein Bein an meins zu schmiegen. Seine Finger streichen erneut über meine Hand, diesmal länger und sehr viel sinnlicher.
»Alice«, sagt er und beugt sich zu mir hin, »Sie sind eine sehr attraktive Frau.« Er nippt an seinem Wein. »Ich würde Sie gern näher kennenlernen.«
Im Moment ist mir eher danach, den Teil mit dem Kennenlernen auszulassen und gleich zum Nahkampf überzugehen. Gerry geht es eindeutig genauso, denn sein Bein presst sich stärker an meins. Ich greife nach meinem Glas Rotwein. Gerry legt seine freie Hand unter dem Tisch auf mein Knie, umschließt es mit sanftem Druck. Unsere Blicke treffen sich.
»Ich glaube, wir gäben ein gutes Paar ab«, wispert Gerry verführerisch. »Wir könnten dem Begriff ›internationale Beziehungen‹ eine neue Bedeutung verleihen.«
Jetzt werde ich knallrot. Ich hebe das Glas an die Lippen, nehme einen großen Schluck und schaue weg, um meine Fassung wiederzugewinnen. Mein Blick fällt durchs Fenster auf die Straße. Dort, direkt vor mir, in einem Regenmantel mit Kapuze und mit Entsetzen im Gesicht, steht Bruce. Und ein paar Schritte hinter ihm Wyatt.
Verdutzt stelle ich das Glas ab.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Gerry besorgt.
»Bestens«, sage ich, heillos verwirrt. Was tun Bruce und Wyatt in Yellow Springs? Und warum hat Bruce mich so angesehen?
Bevor ich weiter darüber nachsinnen kann, ertönt vom Eingang ein markerschütternder Schrei. »Alice, stopp !«
Ich sehe mich absichtlich nicht um. Vielleicht sitzt ja noch eine andere Alice im Restaurant.
Sekunden später steht Bruce bei uns am Tisch. Wyatt kommt ihm langsam hinterher. Bruce reißt mir das Glas aus der Hand. »Alice, Sie müssen nicht länger so leben!«
Er hält mein Glas hoch empor und wirbelt zu Gerry herum. »Diese Frau ist eine genesende Alkoholikerin.«
Gerry starrt mich entgeistert an. »Davon haben Sie mir nichts gesagt, Alice.«
»Bin ich nicht!«, protestiere ich.
»Nichts geschieht ohne Grund«, verkündet Bruce, ohne mich weiter zu beachten, und wendet sich an Wyatt. »Wir kommen zu einem AA-Treffen nach Yellow Springs, und wen sehen wir da?« Er zeigt auf mich.
Mag sein, dass in Yellow Springs vor allem alternativ eingestellte Künstlerseelen beheimatet sind, aber das hindert sämtliche Restaurantgäste nicht daran, uns mit offenem Mund anzuglotzen.
»Junge Frau, es ist an der Zeit, die Dinge nüchtern zu betrachten«, sagt Bruce streng.
»Aber ich bin nicht betrunken«, gebe ich aufgebracht zurück.
Bruce schüttelt seufzend den Kopf und sagt zu Wyatt: »Hier haben wir ein Musterbeispiel für die Verleugnung eines Alkoholproblems.«
»Aber ich bin wirklich keine Alkoholikerin«, sage ich. »Ich trinke nur ganz gelegentlich und kann jederzeit aufhören.«
Bruce schenkt mir einen übertrieben verständnisvollen Blick. »Ich würde sagen, diese Lügen haben wir uns alle schon das eine oder andere Mal erzählt, Alice.«
»Ich habe kein Problem«, sage, nein brülle ich schon fast.
Bruce schüttelt erneut den Kopf und mustert mich traurig. »Glauben Sie das wirklich, Alice? Noch vor ein paar Tagen haben Sie mir erzählt, dass Sie zu
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