Zuckerleben: Roman (German Edition)
Wladimir Pawlowitsch die Gelegenheit zu nutzen und die menschlichen Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, um schneller zum Laster zu gelangen. Kräftige, schaufelartige Hände, die dem Traktoristenkollektiv der von Spekulanten infiltrierten Sowchose »Proletarischer Aufgang« aus Maramonovca gehören, packen die weniger gut gebauten Teilnehmer dieses Einkaufsprozesses, zumeist Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg, die weiter vorne in der Schlange stehen, und schmeißen sie entweder um oder reißen sie zur Seite, wo sie mit dem Gitterkorridor kollidieren und so das Gleichgewicht verlieren. Ein Mann mit gebrochener Nase und einem ausgeschlagenen Zahn, dem das Blut von der linken Gesichtshälfte mal über seine Roter-Oktober-Medaille, mal in die neu erstandenen Schuhe tröpfelt, lächelt beseelt.
Pitirim Tutunarus lilafarbenes Gefährt aus tschechoslowakischer Produktion passiert die kupferfarbenen kommunalen Chruschtschowki-Blocks, weicht einem mit glänzender Flüssigkeit gefüllten Schlagloch aus und biegt ab. Links und rechts ziehen ordentlich verputzte Steinhäuser mit geräumigen Veranden, Weinstöcken und Schrebergärten an dem jungen Moldawier vorbei. Eine Gruppe in Formation spazierender fetter Gänse durchquert gemütlich die Majakowskij-Straße und verschwindet hinter einem wellblechbedachten Brunnen, wo ein arroganter Kater seine linke Pfote mit der Zunge massiert und Tutunaru keines Blickes würdigt. Mit einem fröhlichen Nicken wird er des rot-weiß gestreiften, 1956 errichteten Schornsteins der rayonalen Zuckerfabrik von Dondușeni gewahr und tritt fester auf das Gas. Auf dem ehemaligen Schrottplatz der nordmoldawischen Rayonalhauptstadt sind drei Bürger um ein Loch versammelt, hinter ihnen Sonnenblumenfelder und saftige Hügel. Aufgestützt auf seinen Spaten erkundigt sich einer der schnauzbärtigen Moldawier bei einem gewissen Mischa im Loch, ob dieser auf etwas Metallähnliches gestoßen sei. Tutunarus Fahrzeug saust an ihnen vorbei, wickelt die Moldawier inklusive Mischa im Loch in ein Bouquet kräftigender Staub- und Abgasdüfte ein, ächzt ein wenig und zieht mit fröhlichem Gebrumm auf der Schotterpiste weiter zur Zuckerfabrik, eine der exklusiven Lokalitäten Dondușenis, wo es heißes Wasser zum Duschen gibt.
Eine Erinnerung aus dem Jahr 1946 platzt ungeladen in Ilytschs Gedächtnis, als er auf die Ladefläche des URAL s steigt und deklamiert:
»Bewohner des ehemaligen Obstgartens der Sowjetunion! Dondușenier! Laboranten der Zuckerfabrik! Diesen Monat gibt es wieder keinen Lohn. Nur Coupons für Raduga-Waschmaschinen, die weiß der Teufel wann in den Handel kommen werden, und Kinokarten für Tarkowskijs Nostalgia .«
Ilytschs Worte versetzen die versammelten Einkäufer in einen merkwürdigen Zustand – hier und da wird geflüstert, hier und da denken manche Bürger an die Schuhe, zum Erwerb derer sie alle eingetroffen sind, während die Essenz der Masse Wladimir Pawlowitsch ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. So als sei es eine Zauberformel gewesen, die Wladimir Pawlowitsch von der Ladefläche des URAL s entwichen ist, die die Einkaufsprozessteilnehmer unerwartet beim Schopf ihres Kollektivbewusstseins packte und in ihren Bann zwang.
1946 war Zhora Lewitski mit seiner ganzen Familie verhungert, zeitgleich mit Pavel Ciobanu mit seiner Familie und seinem Vater Dănilă, Vasile Călinescu mit der Familie, Babins Töchter Marița und Mascha mit ihren zwei Söhnen und einer Tochter, dann noch Costache Negrea und Petrea Lewitski mit ihren Ehefrauen.
Der Held der sozialistischen Arbeit fährt fort:
»Also, ich schlage vor, wir nehmen uns einfach das, was uns zusteht. Die Fabrik gehört eigentlich den Leuten, die dort arbeiten, und deswegen … Es wird höchste Zeit, dass sich etwas ändert! Ein konkretes Produkt ist immer besser als eine nichtexistente Waschmaschine, und sei es auch eine defizitäre Raduga. Hlebnik wird eben dran glauben müssen. Holen wir uns seinen Zucker!«
Zu den einzigen Todgeweihten, die die Hungersnot von 1946 in seinem Dorf Cernoleuca überlistet haben, zählen Onisim Negrea und Wasiliy Mitrakow, die von den Katzen und Hunden des Dorfes gerettet wurden, sowie auch die Gebrüder Geras, die ihren Partisanen-Vater, den Helden der Sowjetunion Grigorij Iwanowitsch, aufaßen.
Im Duschraum der Zuckerfabrik leisten die nackten und sehr redseligen Zuckerfabrikarbeiterinnen Jewdochia und Alexeewna einem jungen Moldawier Gesellschaft. Sie kennen den jungen Pitirim
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