Zuckerleben: Roman (German Edition)
Tutunaru seit seinem fünften Lebensjahr, als er ihnen am Bahnübergang von Dondușeni den Weg versperrte, sie am Ärmel zog und nach Brot verlangte.
Zuckerfabrikarbeiterin Alexeewna schrubbt Tutunaru den verspannten Rücken, während der junge Moldawier durch die Dampfwolke gebannt auf die Glühbirne im Umkleideraum starrt, so als würde er noch auf einen guten alten Freund warten. Nach einiger Zeit flackert die Glühbirne dreimal kurz auf, es wird stockfinster, und Tutunaru atmet beruhigt wieder auf und lehnt sich entspannt zurück.
Der Abendstromausfall ist da, also ist alles in Ordnung.
Er ist wieder in Moldawien.
Tutunaru verspürt eine wohltuende Müdigkeit und schließt die Augen. Hier in der Zuckerfabrik fühlt er sich geborgen. Jewdochia, deren eingeseifte Brüste wie pralle kasachische Honigmelonen im Dampf hin und her stolzieren, kommt mit einer faustdicken Kerze zurück, stellt sie auf den Türrahmen zum Umkleideraum und erkundigt sich nach Tutunarus Geschäften, während Alexeewna von Breschnews Zeiten schwärmt, als sie Zucker unter der Arbeitskleidung in eigens dafür geschneiderten Riesenschürzen hinausschmuggelte, um sich auf dem Schwarzmarkt modische Strümpfe aus dem Baltikum zu besorgen. Tutunaru erzählt den beiden Sowjetbürgerinnen seinerseits von seiner Eingebung, die ihn vor rund einer Woche heimgesucht hat.
Er hatte von seinem Nachbarn, dem Wilderer Lyoscha, von der schlechten Ernte in der Ukraine und der damit verbundenen Preissteigerung auf Kohlköpfe erfahren und spontan beschlossen, seinen tschechoslowakischen Kleintransporter mit Kohlköpfen vollzuladen und mit diesen den Zentralmarkt in Odessa zu erobern. Zu seiner großen Enttäuschung hatten die Russen aber viel früher als er davon Wind bekommen. Und bereits am ersten Tag nach seiner Ankunft in Odessa musste Tutunaru mit ansehen, wie mehrere Fuhren mit Saratower Kennzeichen auf das Territorium des Odesser Marktes einkehrten und mit ihrem Dumpingpreis-Kohl ganz Podolien überschwemmten. Tutunaru seufzt.
»Tja, es ist leider nicht mehr wie damals mit ›Bushs Füßchen‹. Diese kapitalistischen Tiefkühlhühner … Sieben große KAMAS -Ladungen haben wir damals mit Michas in nur einem Winter realisiert …«
»Seither bist du irgendwie anders geworden, Junge«, wirft Jewdochia ein.
»Tja, seither habe ich Hühnerfleisch nicht mehr angerührt, als Dank für das gute Geschäft. Ich glaube, du hast recht: die Tiefkühlhühner haben mich irgendwie verändert. Ich glaube, ›Bushs Füßchen‹ haben einen besseren Menschen aus mir gemacht.«
»Das kann ich nicht beurteilen, aber verkauft haben sich deine ›Bushs Füßchen‹ gut.«
Tutunaru lacht.
»Gut? Wie verrückt haben die sich verkauft! Als hätten die Leute bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben Hühnerfleisch zu Gesicht bekommen. Aber wisst ihr was? Ich glaube, es ist nicht das bisschen überteuerte armselige Tiefkühlhuhn, das unsere Leute händeringend kaufen wollten … Mitnichten. Man sollte die metaphysische Intuition der Menschen bei uns nicht unterschätzen.«
Die Troika beginnt mit dem gegenseitigen Abtrocknen. Jewdochia stimmt das alte Volkslied über den schwarzen Raben an.
»Was denn dann?«, fragt Alexeewna, die einen flauschigen Slip mit der Aufschrift Sunday über ihre fleischigen Schenkel hinaufbalanciert. Meine Lieferung!, schießt es dem jungen Tutunaru unwillkürlich durch den Kopf.
Tutunaru grinst:
»Den zauberhaften, lieblichen Hauch des unzugänglich fernen freien Amerika, den ›Bushs Füßchen‹ unwiderstehlich verbreiteten. Versteht ihr? Das ist es, was die Menschen tatsächlich kaufen wollten. Ein Stück Amerika, das du nach der Arbeit auftaust, auseinanderreißt, in die Pfanne wirfst und schmatzend aufisst!«
Die Traktoristen der Sowchose »Proletarischer Aufgang« erreichen als Erste die Abfüllhalle 2 der Zuckerfabrik von Dondușeni. Mit einem Spatenhieb ins Gesicht und ein paar schmierigen Kreuzschraubenzieher-Nierenstichen neutralisieren sie die Milizmänner, die diesen Teil der Zuckerfabrik bewachen, und nehmen ihnen die Makarow-9-mm-Pistolen weg.
Die zwei beliebten Kolchosenschweißer, die Gebrüder Ciprian und Aurel, die die zweite Vorhut der Angreiferkolonne bilden, versetzen den ortsansässigen Nachtwächter Fedya mit einer in Stoff eingewickelten 3 -Liter-Kefirflasche der Marke Maschenka von hinten in einen unerwarteten Schlummerschlaf. Ihre Fackeln erhellen die Hauptzentrifuge, die wie ein gutmütiger gelber Käfer im Raum
Weitere Kostenlose Bücher