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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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zu schweben scheint. Am Rand des Lichtkegels auf der Plattform von Ebene 3 steht ein Mann mit einem großzügig geschnittenen Handtuch mit Blumenmuster um die Hüften und rezitiert ein Gedicht, in dem die Rede von Weizenfeldern, Fellatio in Strohhütten während der Herbsternte und Maiskolbengrillen im Freien ist. Die Traktoristen halten wie verzaubert inne, lauschen der Stimme und vergleichen gedanklich ihre eigenen Erfahrungen mit den Schilderungen aus des halbnackten Mannes Poem, bis dieser das Gedicht fertig rezitiert hat und mit einer Verbeugung den Satz erklingen lässt:
    »Und jetzt raus aus meiner Fabrik, ihr ungewaschenen Posswichte, ich habe an meiner Kreation zu schaffen!«
    Die Traktoristen beschließen, dass der freche Mann der Direktor der Zuckerfabrik sein muss. Das muss Hlebnik sein. Wer sonst würde derart dreist auf die Situation reagieren, wenn die rayonale Hauptzuckerfabrik im Begriff ist, erstürmt zu werden? Hlebnik, nur Hlebnik, ganz klar. Es wurde sogar gemunkelt, dass Hlebnik neben der unmoralischen Exploitation der Zuckerfabrik in Dondușeni in der Epoche des »Ottepel«-Programms von Chruschtschow Verbindungen nach Amerika hatte schlagen können und schon bald sich eben dorthin abzusetzen beabsichtigte. Mit den hart erschufteten Rubeln und Coupons der Fabrikarbeiter, versteht sich.
    Pfiffe, geröcheltes Gespött und aufgebrachtes Gebrumm folgen.
    Mehrere springen auf und laufen die Treppe zur Ebene 3 hinauf. Der halbnackte Moldawier lässt sein erbsengrünes 3-Kopeken-Heft mit dem Gedicht fallen. Ein Elektriker mit einem länglichen Holzpflock in der Linken stößt einen Mitverfolger mit der Hüfte zur Seite und betritt die Ebene 3 mit einem stummen Schrei als Erster. Der halbnackte Bürger erkennt langsam die Gefahr für seine Sicherheit. Der Elektriker winkt ihm mit dem Pflock.
    Der Mann mit dem Gedicht hält das Handtuch mit dem Blumenmuster fest, rennt los. Und rutscht aus.
    Der Elektriker verdreht ihm die Hände mit der unter dem Namen »Milizgriff« bekannten Technik, die vielen Sowjetbürgern seit Govoruchins Detektivfilm Den Treffpunkt darf man nicht ändern ein Begriff ist. Der Sowjetbürger mit dem Gedicht erinnert sich ebenfalls an den Film und vergießt eine Schmerzensträne.
    Hiebe.
    Gestöhne.
    Mehr Hiebe und Schläge, gefolgt von Verwünschungen.
    Gestöhne, schweres Atmen.
    Schmerzen.
    Blut und Röcheln.
    Und noch mehr Schmerzen.
    Ilytsch taucht plötzlich in der Halle auf, schreit einen kurzen Befehl hinaus, reißt seine Arme hoch, und schon bald ergreifen zwei ölige Mechanikerhände seine Taille und heben den Helden der sozialistischen Arbeit in die Höhe. Vorsichtig wie eine Geburtstagstorte wird Ilytsch weitergereicht, bis seine Lackschuhe die Ebene 3 erreichen. Im Hintergrund eilen Jewdochia und Alexeewna zur Rettung Tutunarus, dem mittlerweile die Lichter ausgegangen sind. Der Elektriker verharrt noch immer über den halbnackten Moldawier gebückt und schaut erwartungsvoll auf, als er die Gegenwart des Helden der sozialistischen Arbeit wittert. Ilytsch nähert sich, bis er ganz nah am Körper des Sowjetbürgers mit dem Gedicht steht, ruft nach einer Benzinlampe, klaubt die Hand des halbnackten Mannes vom Metallboden und fühlt ihren Puls.
    »Das ist nicht Hlebnik. Du hast die Hand erhoben gegen unseren unschuldigen Kommersanten Tutunaru. Schand und Fluch!«, sagt Ilytsch und tritt kräftig dem Elektriker mit seinem Lackschuh ins Gesicht, dessen Lippe platzt auf. Ilytsch befiehlt unverzüglich die Durchführung der in solchen Notfällen vorgesehenen Maßnahmen, reißt seine Arme abermals in die Höhe, lässt sich über den Köpfen der Masse zurück zur Hauptzentrifuge transportieren, verkündet, die Zuckerfabrik gehöre ab sofort ihnen und nicht mehr dem Staat, und weist die ihm gefolgten Sowjetbürger an, die Suche nach Hlebniks 40   Tonnen Zucker fortzusetzen.
    Pitirim Tutunaru wird in das rayonale Krankenhaus von Dondușeni transportiert, unter dem Geleit mehrerer Leute, die dafür gesorgt haben, dass trotz des Benzindefizits ein Krankenwagen bereitsteht.
    Die Hintertore der mosaikbestückten Fassade des rayonalen Krankenhauses der Stadt Dondușeni öffnen sich, und eine weiß bekittelte Gestalt mit einem importierten deutschen Stethoskop mit umschaltbarem Doppelkopf-Bruststück erscheint im Mondlicht. Des Doktors Gesicht ist mit Bartstoppeln übersät, und seine gefurchten Augenringe lassen auf eine rege Nachtaktivität schließen. Die Zuckerfabrikarbeiter mit

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