Zuckermacher 02 - Aschenblüten
wir aber ganz bestimmt wieder in London, oder?«, fragte ich.
»Natürlich«, sagte Sarah. »Bis dahin hat sich das neue Baby eingelebt und Mutter ist wieder ganz die Alte.«
»Und vielleicht hast du bis dahin auch genügend Zimt gesehen«, neckte ich sie und freute mich, als sie wieder errötete.
Wir saßen da und guckten ins Feuer, und das Einzige, was wir hörten, war das Knacken des Holzes und ein leises Geräusch, wenn Vater an seiner Tabakspfeife zog.
»Warum gehst du denn nicht allein vor, Hannah«, rief Anne plötzlich aus, »wenn du unbedingt nach London zurückmöchtest?«
Ich sah sie an, und mein Herz tat einen riesigen Satz. Noch nie hatte Anne etwas so Kluges gesagt.
»Das geht nicht«, sagte Mutter sofort.
»Natürlich geht es nicht«, sagte Sarah. »Hannah würde es nicht schaffen, ganz allein Zuckerwerk herzustellen, das Geschäft zu betreiben und die Leute zu bedienen.«
»Na ja«, sagte Anne, »wie wäre es denn, wenn ich mit ihr ginge? Dann könnten wir uns die Arbeit teilen.« Sie sah alle flehentlich an. »Wenn ich in London wäre, würde ich sehr hart arbeiten! Ihr wärt Überrascht, wie hart ich arbeiten würde.«
Bei diesem Vorschlag blieb mir erst fast die Luft weg, doch als er nicht auf der Stelle von allen lauthals abgelehnt wurde, wurde ich doch sehr aufgeregt.
»Was hältst du davon, Vater?«, fragte Mutter nach einer Weile.
»Ich halte es für eine gute Idee«, antwortete er. »Anne würde ein Gewerbe erlernen, und wir hätten zwei Mäuler weniger zu stopfen.«
»Glaubst du denn, dass Anne das schaffen würde?«, fragte Mutter Sarah.
»Natürlich würde sie das schaffen«, warf ich schnell ein. »Sie könnte alles tun, was ich bisher getan habe: einkaufen und Wasser von der Wasserstelle holen und den Zucker zerstoßen. Sie kann im Laden bedienen, während ich die schwierigeren Aufgaben Übernehme«, fügte ich hinzu, weil ich schon viel von Sarah gelernt hatte.
»Und was soll mit Anne geschehen, wenn du nach London zurückgehst, Sarah?«, fragte Mutter.
»Tja«, sagte Sarah bedächtig, »wenn Anne in London zurechtkommt, warte ich hier den rechten Augenblick ab und bleibe noch eine Weile bei dir, Mutter. Vielleicht sogar, bis das Baby abgestillt ist.«
»Und dann könnte Anne nach Chertsey zurückkommen oder wir finden eine andere Anstellung für sie in London«, sagte ich, und ich sagte es in fröhlichem Ton, denn vor meinem geistigen Auge sah ich bereits, wie Tom und ich uns wiedersahen - wie wir uns trafen und küssten und miteinander auf Blumenwiesen spazierten wie in den Bänkelliedern.
»Aber bist du denn vollkommen sicher, dass es ungefährlich ist?«, fragte Mutter.
Ich sprang auf und küsste sie. »Natürlich! In London ist es so sicher wie in Mutters Schoß.«
KAPITEL 5
London
»MAIFEIERTAG UND AUS DIESEM GRUND NACH WESTMINSTER, AUF DEM WEG VIELE MILCHMÄDCHEN MIT BLUMENKRÄNZEN UM IHRE MELKKÜBEL GETROFFEN, DIE EINEM FIEDLER HINTERHERTANZTEN.«
Was ist denn das für ein riesiger Platz?« »Oh! Für wen hält sich dieses dreiste Weibsstück denn?«
»Hannah, sieh dir doch ihre Kleider an!«
»Was für ein wunderschöner Kahn!«
»Sieh dir das doch einmal an!«
Bei unserer langsamen und stetigen Fahrt die Themse aufwärts stellte Anne meine Geduld auf eine harte Probe. Erst lehnte sie sich Über die linke Seite des offenen Flusskahns, dann Über die rechte, zeigte Überallhin, rief etwas aus, hielt vor Staunen die Luft an oder rief mich herbei, damit ich mir erst dies und dann das ansah. Es war Maifeiertag, und es schien fast so, als sei ganz London auf dem Fluss unterwegs.
Mutter hatte uns gebeten, bis zum ersten Mai in Chertsey zu bleiben, und am vergangenen Abend waren sie, Sarah, Anne und ich wie immer an diesem Tag in den Obstgarten gegangen und hatten Leintücher unter den Bäumen ausgebreitet. Im Morgengrauen waren wir aufgestanden und in den Obstgarten gestürmt (Mutter war allerdings nicht gerannt). Dort hatten wir uns die feuchten Tücher auf das Gesicht und an die Arme gedrückt, weil es, wie jedermann weiß, ein wunderbares Schönheitsmittel ist, sich das Gesicht mit Tau zu waschen, der am ersten Mai aufgefangen wurde.
Solchermaßen erfrischt, waren wir zu Milch und Brot ins Haus gegangen, und dann war die ganze Familie zum Anger spaziert, wo ein Maibaum aufgestellt war und eine kleine Maikirmes stattfand, mit Buden, die Zinn, Porzellan, Obst und Spielzeug verkauften, und Darbietungen von Jongleuren, tanzenden Milchmägden und
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