Zuckerpüppchen - Was danach geschah
nach oben gegangen. Das Zittern, das den ganzen Abend in ihr gelauert hatte, blähte sich auf und gewann die Oberhand. Sie legte sich ins Bett und zog die Decke bis an ihre Nasenspitze. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und das Zittern schüttelte sie. “Du wirst doch nicht krank?” Hubert legte die Wärmflasche an ihre Füße. “Wie kann man es im Juni so kalt haben? Du hättest vielleicht doch einen Schnaps trinken sollen!” Er zog sich aus, sah auf sie herab. “Ich wärme dich gleich.”
Sie dachte daran, wie sie als Kind weggelaufen war. Nach Brasilien hatte sie fahren wollen, als blinder Passagier. Brasilien hatte gut geklungen, war weit weg. Es war ihr nicht gelungen. Die Polizei hatte sie nach Hause zurückgebracht. In den sicheren Hafen des Elternhauses. “Begreifst du, daß es keinen Sinn hat wegzulaufen?” hatte der Beamte sie gefragt. Sie hatte es begriffen.
Sie wußte auch jetzt, daß es keinen Sinn hatte wegzulaufen. Wovor wollte sie auch weglaufen? Vor diesem lieben Mann, der sie umsorgte und verwöhnte, der ihr gerade noch eine Wärmflasche ans Bett gebracht hatte, damit ihr nicht kalt wurde? Wie weit hätte sie laufen müssen, um die Angst hinter sich zu lassen? Folgte sie ihr nicht auf Schritt und Tritt wie ihr Schatten? Konnte sie überhaupt ohne Angst leben? Vielleicht, wenn das Kind da war. Wenn Hubert ein normaler Familienvater werden würde. Aber was war normal? Vielleicht war es in allen Familien so, daß die Männer im Bett lauthals von anderen Frauen träumten, sich wünschten, mit dieser und jener zu schlafen. Was wußte sie, was normal war?
Robbie war anders gewesen. Solange er nicht trank, war sie für ihn genug gewesen. Das hatte er jedenfalls immer wieder gesagt. Falls er Träume gehabt hatte, so behielt er die für sich.
War es nicht so, daß die Träume einem selbst gehören sollten? Mußte man alles mit dem anderen teilen? Wenn es den anderen in Angst und Schrecken versetzte, war es dann nicht besser, stumm zu träumen?
Ausgesprochene Träume waren halbe Wirklichkeiten. Und waren Träume nicht gerade darum so reizvoll, weil die Phantasie ihnen keine Grenzen setzte?
Sie wußte von sich selber, daß ihre Träume für sie lebensnotwendig waren. Sie hatte sich schon als Kind wegträumen können. So realistisch, daß alles, was mit ihrem Körper geschah, nicht mehr zählte. Leicht und unbekümmert sprang sie mit den Schafen und Lämmern über grüne Wiesen, während ihrem Leib Gewalt angetan wurde.
Wurden Huberts Träume nicht zur Obsession, weil er sie wieder und wieder äußerte? Wo war bei ihm die Grenze zur Wirklichkeit? Überschritt er sie nicht, wenn er sich mit einer blutjungen Japanerin eng umschlungen fotografieren ließ? Dachte er nicht in einem solchen Moment auch an all die lustvollen Dinge, die er Gaby ins Ohr stöhnte? Dachte er nur daran, oder tat es dann auch? Was hielt ihn zurück? Es war, als holte er sich ihre Absolution vor der Tat.
“Vielleicht”, sagte ihr Frauenarzt und sah Gaby ernst an, “vielleicht können wir das Kind noch retten. Wir werden Sie im Krankenhaus aufnehmen lassen, und Sie dürfen sich nicht bewegen. Absolute Ruhe, kein Streß, keine Aufregungen, nichts. Bei anderen drohenden Fehlgeburten ist das oft das letzte Mittel, um den Abbruch zu vermeiden.” Gaby griff nach Huberts Hand. Sie fühlte sich selbst so kalt werden, als glitte mit dem Leben des Kindes auch ihr eigenes Leben aus ihr. “Natürlich”, sagte sie mit flacher Stimme, “natürlich tue ich alles, um unser Baby zu retten. Aber woran liegt es?” Und obwohl sie ihre Stimme nicht erhob, hatte sie selbst das Gefühl, als ob es in ihr schrie: Bin ich schuld? Tue ich irgend etwas verkehrt? Warum kann ich kein Kind mehr austragen?
“Du mutest dir auch immer zu viel zu”, sagte Hubert. “Es wird dir guttun, ruhig zu liegen und dich verwöhnen zu lassen.”
Der Arzt runzelte beinahe unmerklich seine Augenbrauen. “Während einer gesunden Schwangerschaft darf eine Frau sich normal bewegen und arbeiten. Nur körperliche und seelische Exzesse gefährden die werdende Mutter. Und ich gehe nicht davon aus, daß Sie leichtsinnig mit ihren Kräften umgehen.” Das war keine Frage, sondern eher wie zur Beruhigung zu Gaby gesagt. “Natürlich nicht”, beeilte sie sich trotzdem zu versichern. “Ich war regelmäßig zur Kontrolle, ich trage nichts Schweres, ich esse gut.” Sie atmete tief durch. “Und trotzdem dann heute morgen die Blutungen.” Sie hatte ihre Hand aus
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