Zuckerpüppchen - Was danach geschah
sein.” Sie legte ihre Hand auf seine Hand. Einen Augenblick gestattete er diesen Trost, dann zog er seine Hand zurück. Sie wollte nicht aufgeben. Seit seiner zweiten Operation versuchte sie immer wieder, mit ihm zu reden. Er mußte nicht glauben, daß sie ihn weniger lieben würde, wenn er nicht immer stark war. Er durfte bei ihr schwach sein, ohne daß sie diese Schwäche mißbrauchen würde. Er hatte es nicht nötig, sich hinter einer Mauer zu verschanzen. “Was findest du in der Therapie am schwersten?” fragte sie ihn. Er dachte nach. “Daß Curd so unglücklich ist. Und daß ich ihm so wenig helfen kann.” — “Wir helfen ihm durch unsere Gespräche. Wir hören ihm zu, und wir geben ihm Antwort auf seine Fragen.” Sie sagte mit Absicht wir, um jeden Anschein eines Vorwurfs zu vermeiden. Denn es drehte sich darum, daß sein Vater ihm zuhörte, daß sein Vater ihm die vielen Fragen beantwortete, die er jahrelang nicht gestellt hatte.
“Es ist so wichtig, zu fragen”, fügte sie noch hinzu und sah ihn bittend an. Er verschanzte sich wieder hinter seiner Mauer, sein Visier fiel. Er wollte sie nichts fragen. Sie hatte bei dem letzten Therapiegespräch Hubert in Schutz genommen. Als Curd seinen Vater immer aggressiver angriff, warum er ihn nie gefragt habe, warum er so selten echtes Interesse an ihm gezeigt habe, warum er nicht gemerkt habe, wie unglücklich er sei, hatte sie eingegriffen und gesagt, daß das nun einmal seine Art sei. Er habe keine Antenne für die Menschen um sich herum. “Wenn ich ihn morgen verlassen würde”, hatte sie in plötzlich aufwallender Bitterkeit hinzugefügt, “er wüßte nicht, warum.” Der Therapeut, Curd und Hubert hatten sie einige Sekunden sprachlos angesehen. Der Therapeut sah zu Hubert, ob er darauf antworten wollte. Hubert wandte sich ab, sah zu Boden.
Vielleicht fragt er mich jetzt. Vielleicht sagt er jetzt, wieso sie um Himmels willen so etwas hatte sagen können, daß sie ihn verlassen würde. Oder genauer, daß er nicht wisse, warum sie ihn verlassen könnte. Hätte sie denn einen Grund? Denke sie an so etwas? Aber er fragte sie nichts. Er bestellte sich einen neuen Schnaps. “Und für meine Frau einen Martini. Mit Eis und Zitrone, bitte.” Er wandte sich wieder zu ihr. “Ich möchte mich noch bei dir bedanken”, sagte er. “Ich finde es sehr freundlich von dir, daß du mit mir zur Therapie meines Sohnes gehst.” Bloß nicht ausrasten, dachte Gaby, es hat keinen Sinn, ihm seine Förmlichkeit vorzuwerfen. Er kann wahrscheinlich nicht anders. Noch nicht. Er hält sich an seinen höflichen Redensarten fest wie an einer Krücke. Wenn er die nicht mehr hätte, würde er wahrscheinlich zusammensacken, könnte er wahrscheinlich keinen Schritt mehr machen. “Ich glaube, daß die Therapie auch für uns sehr wichtig ist”, sagte sie. “Irgendwie greift das doch alles ineinander.” — “Das hat doch nicht mit uns zu tun”, wehrte er sie endgültig ab. “Ich habe keine Probleme. Und mit deinen Problernen”, fügte er lächelnd hinzu, “hat das schon gar nichts zu tun. Die liegen ja wohl auf einer ganz anderen Ebene.” Sie trank ihren Martini und fragte sich zum soundsovielten Male, ob er recht hatte. Lagen ihre Probleme auf einer anderen Ebene? Hatten die nicht auch etwas mit ihm zu tun? War es nicht sehr einfach, alles nur auf ihre Kindheit zu schieben? Ihre Kindheit. Eine Kindheit, die keine war. Eine Kindheit, die an ihr nagte und fraß. Obwohl sie in Therapie war. Obwohl sie mit einigen wenigen Menschen jetzt schon darüber gesprochen hatte. Sie hatte jetzt andere Beschwerden. Darmblutungen. Die Untersuchungen hatten ergeben, daß ihr Darm übersät war mit vielen kleinen Nervenknoten, die anscheinend bei Aufregungen und Streßzuständen aufbrachen, bluteten. “Sie müssen ruhiger leben”, hatte der Internist gesagt. “Schaffen Sie sich den Streß vom Hals.”
“Rein organisch kann ich an Ihrem Herzen nichts finden”, hatte die Kardiologin sie beruhigt. “Wahrscheinlich sind die Beklemmungen und die Herzstiche bei Ihnen noch Nachwirkungen von der Operation Ihres Mannes. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Machen Sie sich nicht so viele Sorgen.” — “Also psychisch”, hatte Hubert gesagt, als ob ihre Beschwerden dadurch weniger schmerzhaft seien, ihr Darm weniger bluten würde.
Ja, psychisch. Bei ihr schien alles psychisch zu sein. Vielleicht war sie doch hysterisch. Hatte Mutti ja früher auch oft gesagt.
Aber gut, sie hatte die
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