Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Beschwerden wirklich. Vielleicht war es gar kein Wunder, daß sie solche Beschwerden hatte. Vielleicht würden die Menschen um sie herum nun besser begreifen, was es wirklich bedeutete, so eine Kindheit gehabt zu haben. Und nicht nur die Menschen um sie herum, sondern auch all die anderen, die Inzest und sexuelle Kindesmißhandlung mit einem Schulternzucken abtaten. “Gott, geschlagen worden sind wir ja auch. Das war halt früher so. Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet. Und das andere? So schlimm wird ‘das’ schon nicht gewesen sein!”
Wenn ich früher mein Tagebuch weitergeführt hätte, dann könnten all diese Menschen lesen, was es heißt, gefangen zu sein in einem Käfig von Angst und Einsamkeit. Aber sie konnte es natürlich auch heute noch schreiben. Natürlich? Sie konnte so schreiben, wie sie es als Kind erlebt und erlitten hatte. Konnte sie? Wollte sie? Die Zeit war reif. Ihr schauderte.
Der letzte “Urlaub” nagte wieder an Gaby. Sie hatten drei Wochen in Huberts elterlichem Haus verbracht. Zusammen mit seiner Mutter. “Nachdem du deinen Willen durchgesetzt hast, unser eigenes Haus gründlich zu renovieren, müssen wir in den Sommerferien kürzertreten”, hatte Hubert gesagt. Gaby begriff das. Sie hatte tatsächlich dafür gesorgt, daß ihr eigenes Haus, in dem sie jetzt sechs Jahre wohnten, endlich nach ihrem eigenen Geschmack renoviert wurde. Das bedeutete, helle Tapeten und viel Holz an den Wänden. Sie wollte mit Hubert in einem gemütlichen, freundlichen Heim leben. Und wieder spielte da auch der andere Gedanke eine Rolle: Wenn ‘es’ geschehen ist, wenn das große schwarze Loch mich verschluckt hat, dann ist das Haus zumindest in einem guten Zustand. Sie fühlte sich wie der Bauer, der unbedingt noch sein Feld bestellen wollte. Ich spinne, dachte sie, warum bin ich mir in meinem Alter so sehr der Vergänglichkeit des Lebens bewußt? Warum diese panische Angst, daß jeden Tag alles vorbei sein kann, daß sie eines Tages in den Abgrund stürzen würde? Wie oft hatte sie schon in den Abgrund gesehen oder geglaubt zu sehen, und jedesmal hatte Hubert sie behutsam an die Hand genommen und wieder auf den rechten Weg geführt. Hubert. Er wollte den Urlaub bei seiner Mutter verbringen. “Schließlich steht uns da ein großes Haus zur Verfügung, und du brauchst dich auch nicht um den täglichen Kleinkram zu kümmern. Das tut dann schon meine Mutter.” Gaby hatte geschluckt und “ja, Hubert” gesagt. Sie hatte schließlich ihr Haus renovieren lassen. “Einzig und allein dein Wunsch. Ich fühlte mich wohl, so, wie es war”, hatte Hubert immer wieder betont. Jetzt mußte sie ihm auch entgegenkommen.
Schon am dritten Abend, als Huberts Mutter viele Gäste hatte und Gaby zwischen Küche und Garten hin- und hergescheucht wurde, um Getränke, belegte Brote und Gebäck zu bringen, fragte sie sich, was das für ein Urlaub sein sollte und wo ihre eigene Erholung blieb. Erschöpft ließ sie sich auf den Stuhl neben Herrn Stefans fallen. “Eine kleine Pause, Gaby”, er lächelte sie freundlich an. “Wird Zeit, daß Sie auch einmal ein Glas Wein trinken.” Sie nickte ihm zu. Er war ihr unter den Gästen noch mit der liebste. Sie hatte schon öfter mit dem pensionierten Lehrer gesprochen und mochte ihn gerne. Ein angeheirateter Onkel Huberts. Während er ihr ein Glas Müller-Thurgau einschenkte, begann er auch gleich, ihr von seinem letzten Klassentreffen zu erzählen. “Ist schon ein schönes Gefühl, wenn man nach so vielen Jahren noch immer dazugehört. Und dann zu sehen, was aus den ehemaligen Schülern geworden ist.” Er beschrieb den Klassenbesten so charakteristisch, daß Gaby laut lachen mußte. “Du scheinst dich ja gut zu amüsieren.” Huberts Mutter stand vor ihr. “Würdest du mich bitte auf dem Stuhl sitzen lassen. Ich möchte mich gerne mit Onkel Peter unterhalten.” Gaby sah einen Moment verdutzt zu Huberts Mutter hoch. Wie stolz und unnahbar sie dastand. Eine geborene Dame. Sie stand auf, trat einen Schritt zur Seite. Huberts Mutter setzte sich. “In der Küche steht noch schmutziges Geschirr”, sagte sie. “Das mit dem Goldrand. Das darf nicht in den Geschirrspüler.” Sie wandte sich lächelnd zu Peter Stefans. “Und dir, mein Guter, wie geht es dir? Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr gelangweilt?”
Erst in der Küche begann Gaby zu heulen. Während sie das feine Geschirr mit dem Goldrand abwusch, liefen ihr die Tränen über ihr Gesicht.
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