Zuckerpüppchen - Was danach geschah
sagte er. Er nahm sie nicht in die Arme. Er konnte sie nicht trösten. Aber es hatte ihn auch nicht kalt gelassen.
Sie durfte nicht zuviel von ihm erwarten. Es war für ihn auch ein Schock. Sie mußte froh sein, daß er sie nicht verurteilte. Denn er verurteilte sie nicht. Er klagte sie nicht an.
“Ich suche einen Verleger für mein Buch”, sagte Gaby. “Hast du etwas dagegen, wenn ich es unter meinem Namen veröffentliche? Ich meine, sollte ich ein Pseudonym gebrauchen?”
“Warum solltest du”, fragte er, und sie war zutiefst von seiner Größe berührt. “Es ist deine Geschichte. Veröffentliche sie unter deinem Namen.”
Es würde schwierig sein, einen Verleger für das Buch zu finden, wußte sie. So ein Buch war ein Risiko! Und dann hatte sie eines Nachts eine Idee. Sie setzte sich hin und schrieb an eine große deutsche Zeitschrift, erklärte ihre Motive, warum sie das Buch veröffentlicht haben wollte und legte das Manuskript bei. Und wieder geschah ein kleines Wunder: Sie erhielt fast postwendend Antwort. Ein interessantes Thema, das man schon im Auge habe, aber man schwanke noch zwischen ihrer Geschichte und der Geschichte eines Erfolgsautors.
Gaby fuhr nach Hamburg. Ihr jährlicher “Eheurlaub” war wieder fällig, und sie hatte ihr Manuskript im Koffer. Sie wollte es Achim zu lesen geben. Und sie hatte eine Verabredung mit der Redaktion der Zeitschrift. Sie nahm eine doppelte Portion Tabletten und fuhr zu dem Verlag.
Das große Verlagsgebäude schien auf sie herabzufallen. Gaby stand davor und sah zu den blicklosen Fenstern hoch. Sie zitterte. “Ich will, und ich muß”, murmelte sie und meldete sich entschlossen beim Empfang an. Ja, man erwarte sie schon. Im Aufzug stieg ein Mann im mittleren Alter zu. “Die Redaktion”, fragte sie ihn, “ist das richtig im dritten Stock?” — “Sie kommen bestimmt aus Holland”, fragte er sie, anstatt ihr eine Antwort zu geben. Verblüfft sah sie ihn an. Konnte man jetzt schon an einem Satz hören, daß sie einen holländischen Akzent hatte? Sie platzte damit heraus. “In Holland hört man, daß ich eine Deutsche bin, und hier, daß ich in Holland wohne. Das ist doch wirklich verrückt.” Der Mann lachte. “Nein, keine Angst. Ich erwarte Sie nur. Ich bin Herr Thieme.” Das Eis war gebrochen. Sie lachten beide. Herr Thieme erwartete sie nicht alleine: Da warteten noch sein großer Chef, eine Psychologin, eine weitere Redakteurin, ein Rechtsanwalt. Sie wurde auf Herz und Nieren geprüft, und sie überzeugte. Weil sie ihr Anliegen mit jeder Faser verteidigte? Weil ihre Geschichte ehrlich und “erschütternd” war? Sensation im Taschenbuchformat? Sie wußte es nicht, und es war ihr egal. Solange man ihr das Recht gab, daß nichts gedruckt wurde, das sie nicht gutheißen würde, keine billige Anmache. Und sie hatte unerwartete Bundesgenossen. Herrn Thieme lernte sie als äußerst integeren Journalisten kennen, seine junge Kollegin als einfühlsame Frau. Keiner wollte eine marktschreierische Sensationsstory. Aber sie sicherten sich ab. Natalie mußte schriftlich bestätigen, daß sie sich noch an den Annäherungsversuch ihres Großvaters erinnerte. Bei dem Gespräch mit ihrer Mutter, als Gaby das erste Mal mit ihr über Pappi sprach, hatte sie es ihr gesagt. Robbies Mutter konnte aussagen, daß Gaby ihr einmal als junges Mädchen “etwas” erzählt hatte. Nicht viel, aber es war deutlich, was da geschehen war. Sie hatte nie mehr mit Gaby darüber gesprochen, weil sie glaubte, es wäre ihr unangenehm. Und dann war da Achim. Er las ihr Manuskript. Und er war entsetzt. Er weinte. “Ich habe das nicht gewußt”, sagte er, “ich bringe den Kerl um.” Und später: “Warum hast du mir nie etwas erzählt?” — “Ihr habt nie gefragt, was das heißt, mißbraucht und mißhandelt. Ich dachte, ihr wollt es nicht wissen”, verteidigte sich Gaby. “Außerdem glaube ich, daß ich dir als junges Mädchen geschrieben habe. Als ich aus dem Hause ging.” Gitte schlug die Hand vor den Mund. “Mein Gott, ich habe alle Briefe von früher bewahrt. Auch die, die Achim auf See bekommen hat.”
Zu dritt rutschten sie im Gästezimmer auf dem Fußboden herum und stöberten in den akkurat verschnürten Schuhkartons. Und fanden die beiden Briefe. Mit Gabys kindlicher Handschrift und mit dem Datum: 9.3. und 15.3.1959. Und da stand, wie er sie geschlagen und mißhandelt habe. Warum tut er das? stand da. Liebes Brüderchen, so unnatürlich das klingt, aber es ist
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