Zuckerpüppchen - Was danach geschah
die reinste Eifersucht. Ich bin für ihn keine Tochter, sondern seine Geliebte. Nicht freiwillig natürlich. Außerdem bin ich die größte Hure — sagt er zumindest.
Entsetzt sah Achim auf die Briefe. “Du hast es mir geschrieben, und ich habe nicht darauf reagiert”, sagte er. “Wie konnte ich nur?” — “Du hast es wahrscheinlich nicht geglaubt”, sagte Gaby. “Er hat mich damals so schlecht gemacht. Vielleicht hast du das geglaubt.” Achim schüttelte den Kopf. “Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Ich weiß nur, daß unsere Mutter todunglücklich war. Sie hat es bestimmt nicht gewußt.” Gaby schwieg. Sie wollte ihm die Illusion nicht nehmen. Zwei Monate später hörte er von Tante Inge, daß sie alles gewußt hatte. In dem Bemühen, die Familie vorzuwarnen, damit die Publikation sie nicht zu sehr erschrecke, hatte sie Tante Inge bei einem gemeinsamen Besuch mit Achim von der geplanten Veröffentlichung berichtet. “Damit du nicht zu sehr schockiert bist”, sagte Gaby. “Schockiert, wieso schockiert”, hatte Tante Inge geantwortet. ”Ich weiß davon. Eure Mutter ist einmal bei mir zusammengebrochen. Sie weinte damals. ‘Gaby ist Antons Geliebte’, hat sie gesagt. ‘Ich weiß nicht, was ich tun soll.’ ” Sie hatte nichts getan. Geliebte, dachte Gaby, und sie glaubte, die Bitterkeit auf ihrer Zunge vergifte sie. Wie hatte ihre Mutter sie seine Geliebte nennen können? Und erst jetzt brach Achim endgültig zusammen. Ihre Mutter hatte davon gewußt! Für ihn ein unfaßbarer Gedanke.
Für Gaby war es nur eine Bestätigung. Sie hatte es immer geahnt. Jetzt wußte sie es.
Gaby liebte die Fahrt zurück nach Holland. Es war soviel in Hamburg geschehen, daß sie in den beinahe fünf Stunden noch ihre Gedanken ordnen konnte. Und während draußen vor dem Zugfenster Häuser, Bäume und Wiesen wie an einem Band gezogen vorbeiglitten, ließ sie die Ereignisse der letzten vier Tage noch einmal vor sich abrollen. Sie hatte die Zusage, daß man ihre Geschichte im Mai herausbringen wollte. Nur der Vertrag sollte noch unterschrieben werden. Dazu mußte sie wieder nach Hamburg. Vielleicht konnte Hubert dann mit ihr fahren? Es würde ihnen beiden wahrscheinlich guttun, wenn sie nach den emotional anstrengenden Monaten des Schreibens, nachdem er nun wußte, was da wirklich gelaufen war, ein paar Tage für sich allein hatten. Sie würden endlich wieder zueinander finden. Es hatte ihn doch nicht kalt gelassen. Er konnte sich nur nicht so äußern. Sie durfte nicht zuviel erwarten. Wenn sie nur endlich fühlen könnte, was er sagte. Er sagte, er liebe sie, er brauche sie, er wolle nur sie, aber sie fühlte es nicht. Es waren Worte, die an ihr abglitten wie Wassertropfen auf einer Ölhaut. An wem liegt das? fragte sie sich. Warum fühlte ich bei Herrn Thieme, daß jedes seiner Worte echt war? Ein fremder Mann, der sie ansah und sagte: “Ich bin tief beeindruckt von Ihrer Kraft.” Sie hatte unsicher abgewehrt, sie und kräftig, sie fühle sich schwach und verletzlich, aber sie spürte, seine Worte kamen von innen. Er meinte, was er sagte. Warum fühlte sie das fast nie bei ihrem eigenen Mann? Vielleicht lag es wirklich daran, daß sie gerade im allerengsten Kreis am mißtrauischsten war. “Daran mußt du etwas tun”, hatte auch Gitte ihr geraten. “Es ist doch toll, wie Hubert hinter dir steht. Daß er nichts dagegen hat, daß du diese Geschichte veröffentlichst.” Ja, da hatte sie vollkommen recht. Das zeigte seinen starken Charakter, dachte sie. Aber er steht hinter mir, nicht neben mir. Ich möchte seinen Arm um meine Schulter spüren und doch gleichberechtigt sein. Auch er soll sich bei mir anlehnen können.
Sie hatte in Hamburg wie immer bei Achim und Gitte geschlafen. Nur fünf Minuten entfernt von ihrem Stiefvater. Und sie hatte der Versuchung widerstanden, ihn aufzusuchen. Weil sie nicht wußte, ob sie nicht doch den erstbesten Gegenstand auf seinem Kopf zertrümmern würde. Oder ihn anspringen und ihre Hände um seinen Hals legen würde. Nein, sie war noch nicht imstande, ihm gegenüberzutreten. Jaap hatte einmal zu ihr gesagt, daß sie kein Kind mehr sei und daß sie sich als Frau wehren könne. “Die Spitze einer Feder ist die schärfste Waffe, die es gibt”, hatte er lächelnd zu ihr gesagt. Damals hatte sie geglaubt, nie darüber schreiben zu können. Nie, nie, nie, hatte sie gerufen. Und jetzt hatte sie es doch getan. Und das große, dunkle Loch hatte sie nicht verschluckt. Sie
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