Zuckerpüppchen - Was danach geschah
noch immer das Gefühl, sich selbst an den Pranger zu stellen. Sich öffentlich zu all dem Schlimmen zu bekennen, das sie getan hatte. Denn auch wenn sie wußte, daß sie unschuldig war, sie. fühlte sich schuldig, schmutzig, verdorben.
Mit rotgeränderten Augen lief sie am nächsten Tag durchs Haus. Hubert merkte nichts, fragte nichts. Sie begann ein Doppelleben. Tagsüber kam sie wie eine Schlafwandlerin ihren Pflichten als Mutter, Hausfrau und Journalistin nach, nachts hämmerte sie sich auf der Schreibmaschine die Nägel in ihr Fleisch. Da wurde Hubert aufmerksam. Eine Schreibmaschine macht Lärm. “Was tust du?” fragte er ungehalten. “Was schreibst du, Nacht für Nacht?” Gaby sah ihn an. “Etwas aus meiner Jugend”, sagte sie vage und hoffte, daß er weiterfragen würde. Er wußte doch von ihr, was da in ihrer Jugend gelaufen war. Zumindest im Groben wußte er es. Aber er fragte nichts. Und wenn sie schon am Abend schrieb, während er in seinem Arbeitszimmer beschäftigt war und sie hinterher weinend auf der Couch im Wohnzimmer saß, fragte er auch nichts. Er sah sie an, sah an ihr vorbei. “Ich gehe dann schon mal schlafen”, sagte er und ließ sie allein. Es interessiert ihn nicht, ich kann hier verrecken, und er fragt nicht einmal, warum ich so unglücklich bin. Warum mir die Tränen über mein Gesicht laufen, während ich mich klein und zusammengerollt in der Couchecke verkrieche und blicklos auf den Bildschirm starre.
Und sie fühlte sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben.
Und ihr Haß auf den Mann, der an allem schuld war, wuchs. Sie wollte Rache, blutige Rache. Jede Pore ihres Körpers schrie nach Vergeltung. Sie wollte ihm nach all den Jahren die Maske des Biedermanns von seinem Gesicht reißen. Aber das war noch nicht genug. Sie wollte ihn am Boden liegen sehen, er sollte um Gnade winseln. Der Gedanke begann sie zu beherrschen. Ich werde mit Hubert darüber reden, dachte sie. Sie nahm zwei Beruhigungstabletten extra, trank einen doppelten Martini. Sie redete mit ihm. Sie erzählte ihm, daß sie ein Buch über ihre Jugend begonnen hatte. Und daß der Gedanke an Vergeltung übermächtig zu werden begann. “Ich bringe ihn um”, sagte sie. “Ich fahre zu ihm, und ich bringe ihn um.” Hubert hatte ihr schweigend zugehört. “Ich weiß nicht, warum du dich da so hineinsteigerst”, sagte er. “Glaubst du, daß es gut ist, daß du darüber schreibst?” Er hat mir nicht zugehört, dachte sie verzweifelt. Er spürt nichts von meiner Entschlossenheit, er sieht die Spirale nicht, die mich hinunterzieht. “Ich will ihn leiden sehen”, schrie sie. “So, wie ich gelitten habe!” Unangenehm berührt stand Hubert auf. “Du mußt das tun, was du für richtig hältst”, sagte er. “Du bist erwachsen. Ich kann dir da nicht raten.” An der Tür drehte er sich noch einmal um. “Du würdest wahrscheinlich mildernde Umstände bekommen.” Sprachlos sah Gaby ihm hinterher. Plötzlich ernüchtert. Bedeutete das, daß sie den Kerl umbringen sollte? Mildernde Umstände wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit? Aber sie müßte doch ins Gefängnis. Sie wäre getrennt von ihren Kindern. Und die Kinder müßten auch darunter leiden. Man würde ihnen alles mögliche hinterherrufen. Und Hubert? Er würde sich wahrscheinlich eine andere nehmen. Vielleicht steckte das dahinter. Dann war sie ihm nicht mehr im Wege. Sie interessierte ihn nicht wirklich. Sonst würde er sie nicht so allein lassen. Er mußte doch sehen, wie schlecht es ihr ging. Mildernde Umstände gab er ihr. Sie war nicht mehr zurechnungsfähig. Wahrscheinlich wollte er sie im Gefängnis besuchen. Der treue Ehemann, der seine Frau auch hinter Gittern nicht im Stich läßt. Erst das Buch fertig schreiben, dachte sie. Erst aufschreiben, wie ausgeliefert sie gewesen war. In welchem Teufelskreis so ein Kind sich befindet. Das Zuhause als der sicherste Ort für ein Kind. Sie hatte weglaufen wollen, und man hatte sie eingefangen wie eine streunende Katze. “Begreifst du nicht, was dir alles hätte passieren können”, hatte der Polizist sie gefragt. “Allein, ohne den Schutz deiner Eltern?” Das war der Punkt. Man ging davon aus, daß die Familie der beste Schutz war. Die Familie war heilig. An diesem Gemäuer durfte man nicht rütteln, die Familie als Eckpfeiler der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die an diesem Eckpfeiler rüttelt, befürchtet, unter der Lawine begraben zu werden.
Sie wischte ihre Tränen ab und schrieb weiter. Es ging
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