Zuckerpüppchen - Was danach geschah
vollkommen verstört um. “Sie liegen auf der Aufnahme. Ihr Mann hat Sie bewußtlos hierhergebracht. Sollen wir ihn holen? Er wartet draußen!”
Hubert, ihr geliebter Hubert. Hatte sie doch geträumt? Nein, ihr war schlecht, der Wein, Ursel, Gerd. Es war Liebe gewesen, sagten sie. “Ich will ihn nicht sehen.” — “Haben Sie Tabletten genommen?” Die Stimme war wieder ganz dicht vor ihren Augen. Die Stimme hatte Sommersprossen auf der Nase. Gaby lächelte, ulkige, kleine Sommersprossen. “Ich habe zuviel getrunken”, krächzte sie, “drei oder vier Glas Wein.” Sie dachte angestrengt nach. “Und heute abend noch zwei Beruhigungstabletten. Ich habe nicht versucht, mich umzubringen.” Das war wichtig. “Ich habe nicht versucht, mich umzubringen.” Sie war nicht labil. Er wollte ihr die Kinder nehmen. “Schreiben Sie das bitte auf. Ich habe nur erfahren, daß mein Mann mich betrügt. Mit meiner Freundin. Meiner besten Freundin.” Sie begann zu weinen. “Es ist ja gut.” Jemand streichelte über ihre Schulter. “Schlafen Sie jetzt. Wir glauben Ihnen ja. Wir werden Ihnen den Magen nicht auspumpen. Aber schlafen Sie jetzt.” Schlafen und nie wieder aufwachen. Wenn sie bereute, kam sie vielleicht doch in den Himmel.
“Im Paradies — da gibt es keinen Schmerz und keine Pein”, hatte Schwester Agnes vor einer Ewigkeit der kleinen Gaby erklärt. “Man reicht einander die Hände und ist ein Herz und eine Seele.” Mit Elli war sie ein Herz und eine Seele gewesen. Pappi hatte ihr die Schulfreundin genommen. Mit Ursel war sie ein Herz und eine Seele gewesen. Hubert hatte ihr die Freundin genommen. Wie lebte man ohne Schmerz und ohne Pein? Wie lebte man ohne Angst?
Sie mußte es den Kindern sagen.
Natalie reagierte entrüstet, wütend. “Und ich habe dir noch gesagt, daß das unmöglich wahr sein könnte. Damals, als du mal einen Verdacht gegen Ursel geäußert hast. Wie oft habe ich gedacht, daß du ihm das Leben schwer machst. Diese unterdrückte Wut in dir, dieses krampfhafte Bemühen von dir, heile Welt zu spielen...” — “Das ist nicht wahr”, begehrte Gaby weinend auf, “ich habe geglaubt, daß alles gut war. Ich habe ihm immer wieder geglaubt.”
Manfred war sprachlos. Erst nach einer ganzen Zeit konnte er seine Enttäuschung in Worte fassen. “Ich habe immer gedacht, so möchte ich auch sein, so kühl, so beherrscht. Alles nur Fassade. Was soll man eigentlich noch glauben? Ich dachte, er sei ein guter Vater.”
Viel schwieriger war es, Daniel und Alex die Wahrheit zu sagen. Ich kann sie nicht einmal schonen, ihnen nur die halbe Wahrheit erzählen, dachte Gaby, weil es Ursel ist. Zu Ursel fuhren die beiden Jungen manchmal mittags, um eine Tasse Tee mit ihr zu trinken, um ihren leckeren Apfelkuchen zu probieren, um stolz die guten Zensuren von der letzten Klassenarbeit zu zeigen. Ursel war ihre Lieblingstante, Alex’ Patentante. “Ich möchte nicht mehr, daß ihr zu Tante Ursel geht”, versuchte Gaby ihnen zu erklären und wußte nicht, wie sie es erklären sollte. “Euer Vater und Tante Ursel hatten ein Verhältnis miteinander.” Sie suchte nach Worten. Wie fand man für zwei Jungen im Alter von zehn und vierzehn Jahren die richtigen Worte? Daß der Vater sie mit der Freundin der Mutter, mit ihrer geliebten Tante, betrogen hatte? “Ein Verhältnis, das bedeutet, daß sie miteinander umgingen, sich liebhatten, wie nur Mann und Frau sich liebhaben sollten.” Die beiden sahen sie groß an. “Bist du deswegen umgefallen? Hast du deswegen so viel geweint?” Nur mühsam konnte Gaby jetzt die Tränen zurückhalten. Bloß nicht zu dramatisch sein, nicht in diesem Moment, in dem die Kinder sie nötig hatten. “Ja”, sie nickte, “deswegen. Ich bin unendlich traurig.” Jetzt liefen die Tränen doch über ihre Wangen, und die Kinder schmiegten sich an sie, versuchten sie zu trösten. “Es wird schon wieder gut. Hast du doch selbst gesagt. Nicht wahr, es wird doch wieder gut?”
Abends sprach Hubert mit seinen Söhnen. “Ja”, sagte er, “ich hatte mich in Tante Ursel verliebt. Ihr wißt doch selbst, wie lieb sie ist!” Gaby krampfte sich zusammen wie ein geschlagener Hund, grub ihre Fingernägel tief in ihre Handballen, um nicht wieder aufzuschreien. Aber Daniel tat es, ein empörter, gequälter Schrei: “Und Mammi? Ist sie etwa nicht lieb? Mammi ist auch immer lieb. Immer und immer! Hast du denn Mammi nicht mehr lieb?” Erschrocken war Hubert zusammengefahren. Daniel, der
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